pwa_045.001 das Schöne anschaue in den Formen der Wirklichkeit, bald nur pwa_045.002 wieder erzeugend, bald selber zeugend, bald als Gedächtniss, bald pwa_045.003 als Phantasie. Ist nun diess ihre Stellung und ihr Wirken, so musste pwa_045.004 der Mensch, als es ihn zuerst zum Dichten trieb, nothwendiger Weise pwa_045.005 auch zuerst auf die epische Poesie geführt werden: denn hier vor pwa_045.006 allen und hier am leichtesten und unmittelbarsten wird das Schöne pwa_045.007 angeschaut in den Formen der Wirklichkeit; hier haben Gedächtniss pwa_045.008 und Phantasie vollen, weiten, freien Spielraum, ihre Kraft zu entfalten; pwa_045.009 hier gilt es wie sonst nirgend die Erinnerung des Geschehenen pwa_045.010 zu erneuern und zu fingieren, dass etwas geschehen sei. In den pwa_045.011 übrigen Gattungen steht die Einbildung weit weniger voran, und pwa_045.012 namentlich das Gedächtniss feiert da oft gänzlich. Grundes genug, pwa_045.013 dieselben nur als secundäre, als minder unmittelbare, minder natürliche pwa_045.014 Gestaltungen der Poesie zu betrachten, als solche, die erst bei pwa_045.015 vorgerückter künstlerischer Bildung, nach längerer Uebung möglich pwa_045.016 wurden.
pwa_045.017 Sodann ist auch erörtert worden, wie die bewegliche Natur der pwa_045.018 Gedanken und der Sprache eine entsprechende Bewegtheit sowohl der pwa_045.019 Anschauung als der Darstellung verlange, wie die Darstellung selbst pwa_045.020 und die dargestellte Anschauung, beide jenes Mittels wegen, das ihnen pwa_045.021 dient, historisch vorwärts schreiten und sich in einem causalen Zusammenhange pwa_045.022 fortschreitend entwickeln müssen. Verhält sich diess pwa_045.023 aber so, so konnten wiederum die ersten Dichter nur Epiker sein: pwa_045.024 denn es bedarf nicht viel Zuthuns von Seiten des Dichters, um einen pwa_045.025 in der Wirklichkeit historisch verlaufenen Stoff auch in seinem historischen pwa_045.026 Verlaufe aufzufassen, und eine bewegte Reihe von Begebenheiten pwa_045.027 der Wirklichkeit auch als eine bewegte Reihe in Gedanken pwa_045.028 und Worten vorzuführen: schon von selbst wird sich ihm alles in der pwa_045.029 rechten Entwickelung gestalten, wenn er es nur mit einigermassen pwa_045.030 gesundem Auge ansieht. Dem Lyriker, dem Dramatiker fällt das pwa_045.031 weit weniger von freien Stücken zu; hier haben wir nicht mehr die pwa_045.032 Stufe, welche der Poesie gleich bei ihrem ersten Schritte vor den pwa_045.033 Füssen lag: sie musste sich schon im Epos daran gewöhnt haben, die pwa_045.034 Bewegtheit, die äusserlich dargeboten ist, aufzufassen, ehe sie in pwa_045.035 der Lyrik derjenigen genügen konnte, die mehr durch innere Gründe pwa_045.036 gefordert wird.
pwa_045.037 Ferner wissen wir, und können es noch immer wahrnehmen, dass pwa_045.038 in Völkern, die ihr Jugendalter und den natürlicheren Zustand noch pwa_045.039 nicht überschritten haben, der Einzelne sich kaum als selbständiges pwa_045.040 Individuum fühlt, sondern ruhig, ohne Absicht, ohne rechtes Wissen pwa_045.041 und Wollen als Glied des grösseren Ganzen wirksam ist, und nur
pwa_045.001 das Schöne anschaue in den Formen der Wirklichkeit, bald nur pwa_045.002 wieder erzeugend, bald selber zeugend, bald als Gedächtniss, bald pwa_045.003 als Phantasie. Ist nun diess ihre Stellung und ihr Wirken, so musste pwa_045.004 der Mensch, als es ihn zuerst zum Dichten trieb, nothwendiger Weise pwa_045.005 auch zuerst auf die epische Poesie geführt werden: denn hier vor pwa_045.006 allen und hier am leichtesten und unmittelbarsten wird das Schöne pwa_045.007 angeschaut in den Formen der Wirklichkeit; hier haben Gedächtniss pwa_045.008 und Phantasie vollen, weiten, freien Spielraum, ihre Kraft zu entfalten; pwa_045.009 hier gilt es wie sonst nirgend die Erinnerung des Geschehenen pwa_045.010 zu erneuern und zu fingieren, dass etwas geschehen sei. In den pwa_045.011 übrigen Gattungen steht die Einbildung weit weniger voran, und pwa_045.012 namentlich das Gedächtniss feiert da oft gänzlich. Grundes genug, pwa_045.013 dieselben nur als secundäre, als minder unmittelbare, minder natürliche pwa_045.014 Gestaltungen der Poesie zu betrachten, als solche, die erst bei pwa_045.015 vorgerückter künstlerischer Bildung, nach längerer Uebung möglich pwa_045.016 wurden.
pwa_045.017 Sodann ist auch erörtert worden, wie die bewegliche Natur der pwa_045.018 Gedanken und der Sprache eine entsprechende Bewegtheit sowohl der pwa_045.019 Anschauung als der Darstellung verlange, wie die Darstellung selbst pwa_045.020 und die dargestellte Anschauung, beide jenes Mittels wegen, das ihnen pwa_045.021 dient, historisch vorwärts schreiten und sich in einem causalen Zusammenhange pwa_045.022 fortschreitend entwickeln müssen. Verhält sich diess pwa_045.023 aber so, so konnten wiederum die ersten Dichter nur Epiker sein: pwa_045.024 denn es bedarf nicht viel Zuthuns von Seiten des Dichters, um einen pwa_045.025 in der Wirklichkeit historisch verlaufenen Stoff auch in seinem historischen pwa_045.026 Verlaufe aufzufassen, und eine bewegte Reihe von Begebenheiten pwa_045.027 der Wirklichkeit auch als eine bewegte Reihe in Gedanken pwa_045.028 und Worten vorzuführen: schon von selbst wird sich ihm alles in der pwa_045.029 rechten Entwickelung gestalten, wenn er es nur mit einigermassen pwa_045.030 gesundem Auge ansieht. Dem Lyriker, dem Dramatiker fällt das pwa_045.031 weit weniger von freien Stücken zu; hier haben wir nicht mehr die pwa_045.032 Stufe, welche der Poesie gleich bei ihrem ersten Schritte vor den pwa_045.033 Füssen lag: sie musste sich schon im Epos daran gewöhnt haben, die pwa_045.034 Bewegtheit, die äusserlich dargeboten ist, aufzufassen, ehe sie in pwa_045.035 der Lyrik derjenigen genügen konnte, die mehr durch innere Gründe pwa_045.036 gefordert wird.
pwa_045.037 Ferner wissen wir, und können es noch immer wahrnehmen, dass pwa_045.038 in Völkern, die ihr Jugendalter und den natürlicheren Zustand noch pwa_045.039 nicht überschritten haben, der Einzelne sich kaum als selbständiges pwa_045.040 Individuum fühlt, sondern ruhig, ohne Absicht, ohne rechtes Wissen pwa_045.041 und Wollen als Glied des grösseren Ganzen wirksam ist, und nur
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das Schöne anschaue in den Formen der Wirklichkeit, bald nur pwa_045.002
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auch zuerst auf die epische Poesie geführt werden: denn hier vor pwa_045.006
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pwa_045.037
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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/63>, abgerufen am 22.11.2024.
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