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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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kam, musste man sich durch diesen Gegensatz besonders klar pwa_040.002
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ein Schöpfer auf dem Standpunkte der Menschheit sei.

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Diese letzteren griechischen Ausdrücke haben sich die Römer pwa_040.005
schon frühzeitig angeeignet; die daneben bestehenden lateinischen sind pwa_040.006
canere, carmen, vates. Bei canere ist es noch zweifelhaft, ob es da, pwa_040.007
wo es im Sinne von Dichten gebraucht wird, nicht etwa bloss eine pwa_040.008
Uebersetzung des homerischen aeidein sei. Carmen ist schwer auszudeuten; pwa_040.009
jedesfalls kann es nicht von canere hergeleitet werden, vielleicht pwa_040.010
beruht es auf einer alten und neueren Sprachen nicht ungeläufigen pwa_040.011
Vergleichung der Dichtkunst mit einer mechanischen Handfertigkeit, pwa_040.012
mit dem Bereiten des Gewandes. Bei den Griechen hiess einer, pwa_040.013
der die einzelnen alten Heldenlieder zu grösseren Ganzen verband pwa_040.014
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Hesiod. fragm. 34, 2. Die Lateiner gebrauchen in diesem Sinne texere pwa_040.016
weben, z. B. contexere carmen bei Cicero, ähnlich im Mittelalter. So pwa_040.017
kann auch carmen von carere kommen, welches die Bereitung der pwa_040.018
Wolle vor dem Weben des Tuches und wie carminare auch das Weben pwa_040.019
bezeichnet. Mit carmen hängt auch der lateinische Name der Göttin pwa_040.020
der Dichtkunst zusammen, Camena: von den Grammatikern wird nämlich pwa_040.021
mehrfach bezeugt, dass die ältere Form Casmena lautete; das pwa_040.022
wäre dann wieder der gewöhnliche Wechsel von s und r. Vates endlich pwa_040.023
bezeichnet den Römern einen Weissager und einen Dichter, entweder pwa_040.024
weil die Weissager in Versen sprachen, oder weil man sich pwa_040.025
den Dichter prophetisch begeistert dachte. Im Lateinischen ist das pwa_040.026
Wort ohne Wurzel: zwar hat man es mit dem griechischen phates pwa_040.027
zusammengestellt, allein diese Erklärung ist eine etymologische Unmöglichkeit, pwa_040.028
indem diese Wurzel auch in fari, fateor vorkommt, ph pwa_040.029
und f aber nie in v übergehen. Dazu kommt, dass phates ein kurzes, pwa_040.030
vates dagegen ein langes a hat. Wahrscheinlich ist das Wort gar pwa_040.031
kein lateinisches, sondern neben so vielen andern von den Galliern pwa_040.032
entlehnt. Strabo 4 p. 197 nennt neben den Barden und den Druiden pwa_040.033
als eine Klasse der priesterlichen Gelehrten bei den Galliern die pwa_040.034
ouateis und bezeichnet dieselben als ieropoious kai phusiologous (Priester pwa_040.035
und Naturgelehrte)1. Doch bleibt das Wort auch im Celtischen pwa_040.036
dunkel.

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Para pasi d' os epipan tria phula ton timomenon diapherontos esti, pwa_040.038
bardoi te kai ouateis kai druidai? bardoi men umnetai kai poietai, ouateis de pwa_040.039
ieropoioi kai phusiologoi, druidai de pros te phusiologia kai ten ethiken philosophian pwa_040.040
askousi.

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kam, musste man sich durch diesen Gegensatz besonders klar pwa_040.002
bewusst werden, wie die Poesie eine schaffende Kunst, der Dichter pwa_040.003
ein Schöpfer auf dem Standpunkte der Menschheit sei.

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Diese letzteren griechischen Ausdrücke haben sich die Römer pwa_040.005
schon frühzeitig angeeignet; die daneben bestehenden lateinischen sind pwa_040.006
canere, carmen, vates. Bei canere ist es noch zweifelhaft, ob es da, pwa_040.007
wo es im Sinne von Dichten gebraucht wird, nicht etwa bloss eine pwa_040.008
Uebersetzung des homerischen ἀείδειν sei. Carmen ist schwer auszudeuten; pwa_040.009
jedesfalls kann es nicht von canere hergeleitet werden, vielleicht pwa_040.010
beruht es auf einer alten und neueren Sprachen nicht ungeläufigen pwa_040.011
Vergleichung der Dichtkunst mit einer mechanischen Handfertigkeit, pwa_040.012
mit dem Bereiten des Gewandes. Bei den Griechen hiess einer, pwa_040.013
der die einzelnen alten Heldenlieder zu grösseren Ganzen verband pwa_040.014
und so verbunden vortrug, Gesangnäher ῥαψῳδός, von ῥάπτειν ἀοιδήν: pwa_040.015
Hesiod. fragm. 34, 2. Die Lateiner gebrauchen in diesem Sinne texere pwa_040.016
weben, z. B. contexere carmen bei Cicero, ähnlich im Mittelalter. So pwa_040.017
kann auch carmen von carere kommen, welches die Bereitung der pwa_040.018
Wolle vor dem Weben des Tuches und wie carminare auch das Weben pwa_040.019
bezeichnet. Mit carmen hängt auch der lateinische Name der Göttin pwa_040.020
der Dichtkunst zusammen, Camena: von den Grammatikern wird nämlich pwa_040.021
mehrfach bezeugt, dass die ältere Form Casmena lautete; das pwa_040.022
wäre dann wieder der gewöhnliche Wechsel von s und r. Vâtes endlich pwa_040.023
bezeichnet den Römern einen Weissager und einen Dichter, entweder pwa_040.024
weil die Weissager in Versen sprachen, oder weil man sich pwa_040.025
den Dichter prophetisch begeistert dachte. Im Lateinischen ist das pwa_040.026
Wort ohne Wurzel: zwar hat man es mit dem griechischen φάτης pwa_040.027
zusammengestellt, allein diese Erklärung ist eine etymologische Unmöglichkeit, pwa_040.028
indem diese Wurzel auch in fari, fateor vorkommt, φ pwa_040.029
und f aber nie in v übergehen. Dazu kommt, dass φάτης ein kurzes, pwa_040.030
vates dagegen ein langes a hat. Wahrscheinlich ist das Wort gar pwa_040.031
kein lateinisches, sondern neben so vielen andern von den Galliern pwa_040.032
entlehnt. Strabo 4 p. 197 nennt neben den Barden und den Druiden pwa_040.033
als eine Klasse der priesterlichen Gelehrten bei den Galliern die pwa_040.034
οὐάτεις und bezeichnet dieselben als ἱεροποιοὺς καὶ φυσιολόγους (Priester pwa_040.035
und Naturgelehrte)1. Doch bleibt das Wort auch im Celtischen pwa_040.036
dunkel.

1 pwa_040.037
Παρὰ πᾶσι δ' ὡς ἐπίπαν τρία φῦλα τῶν τιμωμένων διαφερόντως ἐστί, pwa_040.038
βάρδοι τε καὶ οὐάτεις καὶ δρυίδαι; βάρδοι μὲν ὑμνηταὶ καὶ ποιηταί, οὐάτεις δὲ pwa_040.039
ἱεροποιοὶ καὶ φυσιόλογοι, δρυίδαι δὲ πρὸς τῇ φυσιολογίᾳ καὶ τὴν ἠθικὴν φιλοσοφίαν pwa_040.040
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[40/0058] pwa_040.001 kam, musste man sich durch diesen Gegensatz besonders klar pwa_040.002 bewusst werden, wie die Poesie eine schaffende Kunst, der Dichter pwa_040.003 ein Schöpfer auf dem Standpunkte der Menschheit sei. pwa_040.004 Diese letzteren griechischen Ausdrücke haben sich die Römer pwa_040.005 schon frühzeitig angeeignet; die daneben bestehenden lateinischen sind pwa_040.006 canere, carmen, vates. Bei canere ist es noch zweifelhaft, ob es da, pwa_040.007 wo es im Sinne von Dichten gebraucht wird, nicht etwa bloss eine pwa_040.008 Uebersetzung des homerischen ἀείδειν sei. Carmen ist schwer auszudeuten; pwa_040.009 jedesfalls kann es nicht von canere hergeleitet werden, vielleicht pwa_040.010 beruht es auf einer alten und neueren Sprachen nicht ungeläufigen pwa_040.011 Vergleichung der Dichtkunst mit einer mechanischen Handfertigkeit, pwa_040.012 mit dem Bereiten des Gewandes. Bei den Griechen hiess einer, pwa_040.013 der die einzelnen alten Heldenlieder zu grösseren Ganzen verband pwa_040.014 und so verbunden vortrug, Gesangnäher ῥαψῳδός, von ῥάπτειν ἀοιδήν: pwa_040.015 Hesiod. fragm. 34, 2. Die Lateiner gebrauchen in diesem Sinne texere pwa_040.016 weben, z. B. contexere carmen bei Cicero, ähnlich im Mittelalter. So pwa_040.017 kann auch carmen von carere kommen, welches die Bereitung der pwa_040.018 Wolle vor dem Weben des Tuches und wie carminare auch das Weben pwa_040.019 bezeichnet. Mit carmen hängt auch der lateinische Name der Göttin pwa_040.020 der Dichtkunst zusammen, Camena: von den Grammatikern wird nämlich pwa_040.021 mehrfach bezeugt, dass die ältere Form Casmena lautete; das pwa_040.022 wäre dann wieder der gewöhnliche Wechsel von s und r. Vâtes endlich pwa_040.023 bezeichnet den Römern einen Weissager und einen Dichter, entweder pwa_040.024 weil die Weissager in Versen sprachen, oder weil man sich pwa_040.025 den Dichter prophetisch begeistert dachte. Im Lateinischen ist das pwa_040.026 Wort ohne Wurzel: zwar hat man es mit dem griechischen φάτης pwa_040.027 zusammengestellt, allein diese Erklärung ist eine etymologische Unmöglichkeit, pwa_040.028 indem diese Wurzel auch in fari, fateor vorkommt, φ pwa_040.029 und f aber nie in v übergehen. Dazu kommt, dass φάτης ein kurzes, pwa_040.030 vates dagegen ein langes a hat. Wahrscheinlich ist das Wort gar pwa_040.031 kein lateinisches, sondern neben so vielen andern von den Galliern pwa_040.032 entlehnt. Strabo 4 p. 197 nennt neben den Barden und den Druiden pwa_040.033 als eine Klasse der priesterlichen Gelehrten bei den Galliern die pwa_040.034 οὐάτεις und bezeichnet dieselben als ἱεροποιοὺς καὶ φυσιολόγους (Priester pwa_040.035 und Naturgelehrte) 1. Doch bleibt das Wort auch im Celtischen pwa_040.036 dunkel. 1 pwa_040.037 Παρὰ πᾶσι δ' ὡς ἐπίπαν τρία φῦλα τῶν τιμωμένων διαφερόντως ἐστί, pwa_040.038 βάρδοι τε καὶ οὐάτεις καὶ δρυίδαι; βάρδοι μὲν ὑμνηταὶ καὶ ποιηταί, οὐάτεις δὲ pwa_040.039 ἱεροποιοὶ καὶ φυσιόλογοι, δρυίδαι δὲ πρὸς τῇ φυσιολογίᾳ καὶ τὴν ἠθικὴν φιλοσοφίαν pwa_040.040 ἀσκοῦσι.

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/58>, abgerufen am 22.11.2024.