Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_452.001 pwa_452.026 pwa_452.030 pwa_452.001 pwa_452.026 pwa_452.030 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0470" n="452"/><lb n="pwa_452.001"/> immer wieder einen gleichen Vers auf den andern folgen, sondern sie <lb n="pwa_452.002"/> vereinigt ungleiche Verse zur Strophe, wie auch die Lyrik des Mittelalters <lb n="pwa_452.003"/> iambische und trochäische, iambische und anapästische Verse <lb n="pwa_452.004"/> verband; sie löst aber alsbald diese Verschiedenheit wieder auf in <lb n="pwa_452.005"/> einer höheren Einheit, indem sie den Strophen eine den Anforderungen <lb n="pwa_452.006"/> der Symmetrie gemässe Gestaltung giebt, und beruhigt die bewegte <lb n="pwa_452.007"/> Mannigfaltigkeit durch Wiederholung der gleichen Strophengebäude. <lb n="pwa_452.008"/> Auch da tritt uns der Unterschied der drei Stufen dieser Stilgattung <lb n="pwa_452.009"/> wieder entgegen: die antike Elegie bedient sich einer nur zweizeiligen, <lb n="pwa_452.010"/> aus einfachen Versen gebildeten Strophe, des Distichons, das aus dem <lb n="pwa_452.011"/> epischen Hexameter und dem Pentameter besteht; die melische Lyrik <lb n="pwa_452.012"/> des Alterthums, das Lied gebraucht drei- und vierzeilige Strophen, <lb n="pwa_452.013"/> die aber aus zusammengesetzten Versen bestehn und dreitheilig gebaut <lb n="pwa_452.014"/> sind: also auch hier wieder Fortschritt und Beruhigung, Wechsel und <lb n="pwa_452.015"/> Gleichmass. Die Strophen der chorischen Lyrik, der Pindarischen <lb n="pwa_452.016"/> Ode und der dramatischen Chorgesänge sind aus vielen Zeilen aufgebaut, <lb n="pwa_452.017"/> aber auch hier, auf einer Stufe höher, herrscht wiederum <lb n="pwa_452.018"/> das Gesetz der Dreitheiligkeit: auf je zwei gleiche Strophen, auf <lb n="pwa_452.019"/> Strophe und Antistrophe, folgt eine ungleiche dritte, die Epode (<foreign xml:lang="grc">ἐπῳδός</foreign>). <lb n="pwa_452.020"/> Die Hymnen aber und die Dithyramben, die in ihrem Schwunge <lb n="pwa_452.021"/> noch bewegter, ja ungestüm bewegt sind, werden aus ungleichen <lb n="pwa_452.022"/> Strophen aufgebaut; sie sind <foreign xml:lang="grc">πολύστροφα</foreign> oder gar <foreign xml:lang="grc">ἄστροφα</foreign>, binden <lb n="pwa_452.023"/> sich an keine Dreitheiligkeit mehr und kennen nur den freiesten <lb n="pwa_452.024"/> Wechsel verschiedener Versformen, zeigen also nur Bewegung, keine <lb n="pwa_452.025"/> Beruhigung.</p> <p><lb n="pwa_452.026"/> So viel konnte über den Stil der rednerischen Prosa und der lyrischen <lb n="pwa_452.027"/> Poesie jetzt noch gesagt werden. Wir können somit, da es <lb n="pwa_452.028"/> über den Stil des Gefühls hinaus keine weitere Stufe giebt, die ganze <lb n="pwa_452.029"/> Stilistik schliessen.</p> </div> </div> </div> </div> </body> <back> <div n="1"> <p> <lb n="pwa_452.030"/> <hi rendition="#c">Halle, Buchdruckerei des Waisenhauses.</hi> </p> </div> </back> </text> </TEI> [452/0470]
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immer wieder einen gleichen Vers auf den andern folgen, sondern sie pwa_452.002
vereinigt ungleiche Verse zur Strophe, wie auch die Lyrik des Mittelalters pwa_452.003
iambische und trochäische, iambische und anapästische Verse pwa_452.004
verband; sie löst aber alsbald diese Verschiedenheit wieder auf in pwa_452.005
einer höheren Einheit, indem sie den Strophen eine den Anforderungen pwa_452.006
der Symmetrie gemässe Gestaltung giebt, und beruhigt die bewegte pwa_452.007
Mannigfaltigkeit durch Wiederholung der gleichen Strophengebäude. pwa_452.008
Auch da tritt uns der Unterschied der drei Stufen dieser Stilgattung pwa_452.009
wieder entgegen: die antike Elegie bedient sich einer nur zweizeiligen, pwa_452.010
aus einfachen Versen gebildeten Strophe, des Distichons, das aus dem pwa_452.011
epischen Hexameter und dem Pentameter besteht; die melische Lyrik pwa_452.012
des Alterthums, das Lied gebraucht drei- und vierzeilige Strophen, pwa_452.013
die aber aus zusammengesetzten Versen bestehn und dreitheilig gebaut pwa_452.014
sind: also auch hier wieder Fortschritt und Beruhigung, Wechsel und pwa_452.015
Gleichmass. Die Strophen der chorischen Lyrik, der Pindarischen pwa_452.016
Ode und der dramatischen Chorgesänge sind aus vielen Zeilen aufgebaut, pwa_452.017
aber auch hier, auf einer Stufe höher, herrscht wiederum pwa_452.018
das Gesetz der Dreitheiligkeit: auf je zwei gleiche Strophen, auf pwa_452.019
Strophe und Antistrophe, folgt eine ungleiche dritte, die Epode (ἐπῳδός). pwa_452.020
Die Hymnen aber und die Dithyramben, die in ihrem Schwunge pwa_452.021
noch bewegter, ja ungestüm bewegt sind, werden aus ungleichen pwa_452.022
Strophen aufgebaut; sie sind πολύστροφα oder gar ἄστροφα, binden pwa_452.023
sich an keine Dreitheiligkeit mehr und kennen nur den freiesten pwa_452.024
Wechsel verschiedener Versformen, zeigen also nur Bewegung, keine pwa_452.025
Beruhigung.
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So viel konnte über den Stil der rednerischen Prosa und der lyrischen pwa_452.027
Poesie jetzt noch gesagt werden. Wir können somit, da es pwa_452.028
über den Stil des Gefühls hinaus keine weitere Stufe giebt, die ganze pwa_452.029
Stilistik schliessen.
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Halle, Buchdruckerei des Waisenhauses.
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