Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_438.001 pwa_438.028 pwa_438.001 pwa_438.028 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0456" n="438"/><lb n="pwa_438.001"/> auf dem andern ihre Qualität; auf dem einen die Länge und Kürze, <lb n="pwa_438.002"/> auf dem andern den Accent der Silben. Der Rhythmus des Accentes <lb n="pwa_438.003"/> ist das Princip der deutschen und, minder streng, der romanischen <lb n="pwa_438.004"/> Verskunst; der Rhythmus der Quantität das der griechischen; die <lb n="pwa_438.005"/> römischen Verse sind ursprünglich gleichfalls nach dem Accent, erst <lb n="pwa_438.006"/> späterhin nach der Quantität gebaut worden; dasselbe lässt sich vielleicht <lb n="pwa_438.007"/> auch von den griechischen Versen behaupten. Ueberall nun, <lb n="pwa_438.008"/> wo die Rede bloss nach dem Rhythmus des Accentes gestaltet und <lb n="pwa_438.009"/> geordnet wurde, wo der Rhythmus nicht so materiell, nicht so körperlich <lb n="pwa_438.010"/> war, wie beim quantitierenden Versbau, hat es geschienen, dass <lb n="pwa_438.011"/> damit der Kunst noch kein Genügen geleistet, dass damit die poetische <lb n="pwa_438.012"/> Rede noch nicht hinlänglich der alltäglichen Sprechweise entfremdet <lb n="pwa_438.013"/> und von ihr unterschieden sei: es hat sich da immer das Bedürfniss <lb n="pwa_438.014"/> nach noch einer weiteren Ausschmückung geltend gemacht. Zum <lb n="pwa_438.015"/> Wohlklang, den der Rhythmus bewirkt, gesellte sich noch der Wohllaut. <lb n="pwa_438.016"/> Diese Ausschmückung bot sich den Deutschen in der <hi rendition="#b">Allitteration,</hi> <lb n="pwa_438.017"/> d. h. in der Uebereinstimmung der Anfangslaute mehrerer Worte, <lb n="pwa_438.018"/> den lateinisch redenden Völkern in der Allitteration und im <hi rendition="#b">Reime;</hi> <lb n="pwa_438.019"/> ich meine von beiderlei Völkern nur die nationalen Anfänge der Poesie: <lb n="pwa_438.020"/> da kannten die Deutschen allerdings nur noch die Allitteration, die <lb n="pwa_438.021"/> Lateiner sowohl Allitteration als Reim; erst als sich die Litteratur <lb n="pwa_438.022"/> beider fremdem Einflusse hingab, liessen die Römer den Reim und <lb n="pwa_438.023"/> die Allitteration fallen, die Deutschen aber vertauschten die Allitteration <lb n="pwa_438.024"/> gegen den Reim. Diess geschah im neunten Jahrhundert. Nur <lb n="pwa_438.025"/> bei den Angelsachsen und den Scandinaviern blieb die Allitteration <lb n="pwa_438.026"/> länger im Gebrauche: ein Beispiel aus der Poesie der letzteren in <lb n="pwa_438.027"/> deutscher Uebersetzung Chamissos Lied von Thrym (LB. 2, 1653).</p> <p><lb n="pwa_438.028"/> In diesen zweierlei Mitteln der Ausschmückung wirken beide, das <lb n="pwa_438.029"/> Streben nach Bewegung durch Wechsel und das Streben nach Beruhigung <lb n="pwa_438.030"/> durch Wiederholung, oder mit andern Worten das Streben nach <lb n="pwa_438.031"/> Mannigfaltigkeit und das nach Einheit zusammen, ebenso zusammen, <lb n="pwa_438.032"/> wie schon in dem Rhythmus der Rede, dem diese Ausschmückung <lb n="pwa_438.033"/> noch beigegeben wird. Ein Beispiel mag das Gesagte verdeutlichen. <lb n="pwa_438.034"/> Im Gedicht vom Jüngsten Tage (Muspilli) heisst es z. B. (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 78. 1<hi rendition="#sup">5</hi>, <lb n="pwa_438.035"/> 256): „Sô in<hi rendition="#i">p</hi>rinnant diê <hi rendition="#i">p</hi>ergâ, <hi rendition="#i">p</hi>oum ni kistentit“ (so entbrennen die <lb n="pwa_438.036"/> Berge, kein Baum steht fest). Von diesen zwei Versen hat jeder zwei <lb n="pwa_438.037"/> gehobene Silben; darin besteht also die Wiederholung des Gleichen. <lb n="pwa_438.038"/> Zu dieser Gleichmässigkeit kommt nun aber auch eine Abwechslung, <lb n="pwa_438.039"/> indem man nur drei dieser vier Silben allitterieren lässt. Die Allitteration <lb n="pwa_438.040"/> selbst aber besteht in einer Wiederholung: in dem vorliegenden <lb n="pwa_438.041"/> Beispiel wird dreimal der Anfangslaut <hi rendition="#i">p</hi> wiederholt. Dabei ist </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [438/0456]
pwa_438.001
auf dem andern ihre Qualität; auf dem einen die Länge und Kürze, pwa_438.002
auf dem andern den Accent der Silben. Der Rhythmus des Accentes pwa_438.003
ist das Princip der deutschen und, minder streng, der romanischen pwa_438.004
Verskunst; der Rhythmus der Quantität das der griechischen; die pwa_438.005
römischen Verse sind ursprünglich gleichfalls nach dem Accent, erst pwa_438.006
späterhin nach der Quantität gebaut worden; dasselbe lässt sich vielleicht pwa_438.007
auch von den griechischen Versen behaupten. Ueberall nun, pwa_438.008
wo die Rede bloss nach dem Rhythmus des Accentes gestaltet und pwa_438.009
geordnet wurde, wo der Rhythmus nicht so materiell, nicht so körperlich pwa_438.010
war, wie beim quantitierenden Versbau, hat es geschienen, dass pwa_438.011
damit der Kunst noch kein Genügen geleistet, dass damit die poetische pwa_438.012
Rede noch nicht hinlänglich der alltäglichen Sprechweise entfremdet pwa_438.013
und von ihr unterschieden sei: es hat sich da immer das Bedürfniss pwa_438.014
nach noch einer weiteren Ausschmückung geltend gemacht. Zum pwa_438.015
Wohlklang, den der Rhythmus bewirkt, gesellte sich noch der Wohllaut. pwa_438.016
Diese Ausschmückung bot sich den Deutschen in der Allitteration, pwa_438.017
d. h. in der Uebereinstimmung der Anfangslaute mehrerer Worte, pwa_438.018
den lateinisch redenden Völkern in der Allitteration und im Reime; pwa_438.019
ich meine von beiderlei Völkern nur die nationalen Anfänge der Poesie: pwa_438.020
da kannten die Deutschen allerdings nur noch die Allitteration, die pwa_438.021
Lateiner sowohl Allitteration als Reim; erst als sich die Litteratur pwa_438.022
beider fremdem Einflusse hingab, liessen die Römer den Reim und pwa_438.023
die Allitteration fallen, die Deutschen aber vertauschten die Allitteration pwa_438.024
gegen den Reim. Diess geschah im neunten Jahrhundert. Nur pwa_438.025
bei den Angelsachsen und den Scandinaviern blieb die Allitteration pwa_438.026
länger im Gebrauche: ein Beispiel aus der Poesie der letzteren in pwa_438.027
deutscher Uebersetzung Chamissos Lied von Thrym (LB. 2, 1653).
pwa_438.028
In diesen zweierlei Mitteln der Ausschmückung wirken beide, das pwa_438.029
Streben nach Bewegung durch Wechsel und das Streben nach Beruhigung pwa_438.030
durch Wiederholung, oder mit andern Worten das Streben nach pwa_438.031
Mannigfaltigkeit und das nach Einheit zusammen, ebenso zusammen, pwa_438.032
wie schon in dem Rhythmus der Rede, dem diese Ausschmückung pwa_438.033
noch beigegeben wird. Ein Beispiel mag das Gesagte verdeutlichen. pwa_438.034
Im Gedicht vom Jüngsten Tage (Muspilli) heisst es z. B. (LB. 14, 78. 15, pwa_438.035
256): „Sô inprinnant diê pergâ, poum ni kistentit“ (so entbrennen die pwa_438.036
Berge, kein Baum steht fest). Von diesen zwei Versen hat jeder zwei pwa_438.037
gehobene Silben; darin besteht also die Wiederholung des Gleichen. pwa_438.038
Zu dieser Gleichmässigkeit kommt nun aber auch eine Abwechslung, pwa_438.039
indem man nur drei dieser vier Silben allitterieren lässt. Die Allitteration pwa_438.040
selbst aber besteht in einer Wiederholung: in dem vorliegenden pwa_438.041
Beispiel wird dreimal der Anfangslaut p wiederholt. Dabei ist
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription.
(2015-09-30T09:54:39Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination
Weitere Informationen:Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |