Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_426.001 pwa_426.017 pwa_426.027 pwa_426.001 pwa_426.017 pwa_426.027 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0444" n="426"/><lb n="pwa_426.001"/> Schlug meine Zähne knirschend an einander: Ich weinte nicht. Mein <lb n="pwa_426.002"/> königliches Blut Floss schändlich unter unbarmherz'gen Streichen: Ich <lb n="pwa_426.003"/> sah auf dich und weinte nicht.“ Also ist auch der gleiche Reim als <lb n="pwa_426.004"/> eine Epiphora zu betrachten: vgl. Schlegels Bund der Kirche mit den <lb n="pwa_426.005"/> Künsten (LB. 2, 1281, 35 u. 1283, 11). Das Gleiche gilt auch von dem <lb n="pwa_426.006"/> überzähligen Reime, der aus einem gewöhnlichen und einem gleichen <lb n="pwa_426.007"/> zusammengesetzt ist: er findet sich namentlich in der hauptsächlichsten <lb n="pwa_426.008"/> Form der arabischen und der persischen Lyrik, in der Kasside, und <lb n="pwa_426.009"/> in deren Abart, dem Ghasel, indem hier häufig am Ende jedes neuen <lb n="pwa_426.010"/> Distichons dasselbe Wort oder dieselben Worte wiederkehren. Ein <lb n="pwa_426.011"/> Gedicht von Rückert in der Form des Ghasels wird das am besten <lb n="pwa_426.012"/> zeigen; es ist an die Poesie gerichtet und beginnt also: „Du Duft, <lb n="pwa_426.013"/> der meine Seele speiset, verlass mich nicht! Traum, der mit mir <lb n="pwa_426.014"/> durchs Leben reiset, verlass mich nicht! Du Paradiesesvogel, dessen <lb n="pwa_426.015"/> Schwing' ungesehn Mit leisem Säuseln mich umkreiset, verlass mich <lb n="pwa_426.016"/> nicht!“ u. s. f. (LB. 2, 1566).</p> <p><lb n="pwa_426.017"/><hi rendition="#b">Epanalepsis,</hi><foreign xml:lang="grc">ἐπανάληψις</foreign>, Wiederaufnahme, oder <hi rendition="#b">Anadiplosis,</hi><lb n="pwa_426.018"/><foreign xml:lang="grc">ἀναδίπλωσις</foreign>, Verdoppelung: so heisst man es, wenn der Anfang des <lb n="pwa_426.019"/> einen Satzes am Ende des andern wiederholt wird. Beispiel, Klopstock <lb n="pwa_426.020"/> (Messias 2, 763): „Weinet um mich, ihr Kinder des Lichts! er liebt <lb n="pwa_426.021"/> mich nicht wieder, ewig nicht wieder: ach, weinet um mich!“ Eine <lb n="pwa_426.022"/> Epanalepsis ist es auch, wenn Walther von der Vogelweide jede <lb n="pwa_426.023"/> Strophe eines Liedes mit dem Worte <hi rendition="#i">owê</hi> beginnt und schliesst <lb n="pwa_426.024"/> (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 408; Wack. Ausg. S. 74); oder wenn Joh. Mentzer am Anfang <lb n="pwa_426.025"/> und am Ende jeder Strophe seines Passionsliedes die Worte: „Der am <lb n="pwa_426.026"/> Kreuz ist meine Liebe,“ wiederkehren lässt.</p> <p><lb n="pwa_426.027"/> In der Epanalepsis vereinigen sich gewissermassen die Anaphora <lb n="pwa_426.028"/> und die Epiphora. Eine wirkliche und eigentliche Vereinigung beider <lb n="pwa_426.029"/> ist die <hi rendition="#b">Epanodos,</hi> <foreign xml:lang="grc">ἐπάνοδος</foreign>, der Rückweg, wo sich die Wortfolge bei <lb n="pwa_426.030"/> der Wiederholung umkehrt, wo, was vorher das erste Wort gewesen, <lb n="pwa_426.031"/> nun das letzte wird und umgekehrt. Ganze Verse werden in umgekehrter <lb n="pwa_426.032"/> Folge wiederholt in einem Liede Walthers, das zwar einen <lb n="pwa_426.033"/> moralischen Zweck verfolgt, gleichwohl aber scherzhaften Character hat <lb n="pwa_426.034"/> (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 400; Wack. Ausg. S. 64). Seb. Brant, Narrenschiff (Cap. 103, <lb n="pwa_426.035"/> 92; LB. 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 1505, 22): „Die zyt die kumt, es kumt die zyt.“ Hesekiel <lb n="pwa_426.036"/> 7, 6: „Das Ende kommt, es kommt das Ende.“ 1. Mos. 5, 17: „Pharao <lb n="pwa_426.037"/> sprach: Ihr seid müssig, müssig seid ihr.“ Lächerlich aber ist es, wenn <lb n="pwa_426.038"/> die Epanodos einzelne inhaltslose Worte trifft; so z. B. in der Medea, <lb n="pwa_426.039"/> einem Melodrama von Gotter: „Hier lag ich sonst, sonst lag ich hier <lb n="pwa_426.040"/> und flehte Segen Auf Jasons Haupt. Nun lieg' ich hier, hier lieg' ich nun <lb n="pwa_426.041"/> Und flehe Rache auf Jasons Haupt“ (zugleich ein Beispiel der Epiphora).</p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [426/0444]
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Schlug meine Zähne knirschend an einander: Ich weinte nicht. Mein pwa_426.002
königliches Blut Floss schändlich unter unbarmherz'gen Streichen: Ich pwa_426.003
sah auf dich und weinte nicht.“ Also ist auch der gleiche Reim als pwa_426.004
eine Epiphora zu betrachten: vgl. Schlegels Bund der Kirche mit den pwa_426.005
Künsten (LB. 2, 1281, 35 u. 1283, 11). Das Gleiche gilt auch von dem pwa_426.006
überzähligen Reime, der aus einem gewöhnlichen und einem gleichen pwa_426.007
zusammengesetzt ist: er findet sich namentlich in der hauptsächlichsten pwa_426.008
Form der arabischen und der persischen Lyrik, in der Kasside, und pwa_426.009
in deren Abart, dem Ghasel, indem hier häufig am Ende jedes neuen pwa_426.010
Distichons dasselbe Wort oder dieselben Worte wiederkehren. Ein pwa_426.011
Gedicht von Rückert in der Form des Ghasels wird das am besten pwa_426.012
zeigen; es ist an die Poesie gerichtet und beginnt also: „Du Duft, pwa_426.013
der meine Seele speiset, verlass mich nicht! Traum, der mit mir pwa_426.014
durchs Leben reiset, verlass mich nicht! Du Paradiesesvogel, dessen pwa_426.015
Schwing' ungesehn Mit leisem Säuseln mich umkreiset, verlass mich pwa_426.016
nicht!“ u. s. f. (LB. 2, 1566).
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Epanalepsis, ἐπανάληψις, Wiederaufnahme, oder Anadiplosis, pwa_426.018
ἀναδίπλωσις, Verdoppelung: so heisst man es, wenn der Anfang des pwa_426.019
einen Satzes am Ende des andern wiederholt wird. Beispiel, Klopstock pwa_426.020
(Messias 2, 763): „Weinet um mich, ihr Kinder des Lichts! er liebt pwa_426.021
mich nicht wieder, ewig nicht wieder: ach, weinet um mich!“ Eine pwa_426.022
Epanalepsis ist es auch, wenn Walther von der Vogelweide jede pwa_426.023
Strophe eines Liedes mit dem Worte owê beginnt und schliesst pwa_426.024
(LB. 14, 408; Wack. Ausg. S. 74); oder wenn Joh. Mentzer am Anfang pwa_426.025
und am Ende jeder Strophe seines Passionsliedes die Worte: „Der am pwa_426.026
Kreuz ist meine Liebe,“ wiederkehren lässt.
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In der Epanalepsis vereinigen sich gewissermassen die Anaphora pwa_426.028
und die Epiphora. Eine wirkliche und eigentliche Vereinigung beider pwa_426.029
ist die Epanodos, ἐπάνοδος, der Rückweg, wo sich die Wortfolge bei pwa_426.030
der Wiederholung umkehrt, wo, was vorher das erste Wort gewesen, pwa_426.031
nun das letzte wird und umgekehrt. Ganze Verse werden in umgekehrter pwa_426.032
Folge wiederholt in einem Liede Walthers, das zwar einen pwa_426.033
moralischen Zweck verfolgt, gleichwohl aber scherzhaften Character hat pwa_426.034
(LB. 14, 400; Wack. Ausg. S. 64). Seb. Brant, Narrenschiff (Cap. 103, pwa_426.035
92; LB. 15, 1505, 22): „Die zyt die kumt, es kumt die zyt.“ Hesekiel pwa_426.036
7, 6: „Das Ende kommt, es kommt das Ende.“ 1. Mos. 5, 17: „Pharao pwa_426.037
sprach: Ihr seid müssig, müssig seid ihr.“ Lächerlich aber ist es, wenn pwa_426.038
die Epanodos einzelne inhaltslose Worte trifft; so z. B. in der Medea, pwa_426.039
einem Melodrama von Gotter: „Hier lag ich sonst, sonst lag ich hier pwa_426.040
und flehte Segen Auf Jasons Haupt. Nun lieg' ich hier, hier lieg' ich nun pwa_426.041
Und flehe Rache auf Jasons Haupt“ (zugleich ein Beispiel der Epiphora).
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