Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_423.001 pwa_423.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0441" n="423"/><lb n="pwa_423.001"/> in sich selbst entzweite Mischung von epischer und lyrischer Poesie, ja <lb n="pwa_423.002"/> er kommt auch in reiner Lyrik vor, wie z. B. bei Catull. Es ist früher <lb n="pwa_423.003"/> (S. 97) aus der Litteratur mehrerer Völker nachgewiesen worden, dass <lb n="pwa_423.004"/> die erste Spaltung der alten einfachen epischen Poesie in epische und <lb n="pwa_423.005"/> und lyrische sich darstellt in einer solchen Verbindung von Strophe <lb n="pwa_423.006"/> und Refrain: in der Reihe der Strophen schreitet die Erzählung ungesäumt <lb n="pwa_423.007"/> vom Anfang dem Ende entgegen: sie bilden das epische Element <lb n="pwa_423.008"/> der Dichtung; aber hinter jeder Strophe kehrt nun der Refrain <lb n="pwa_423.009"/> wieder, ein kurzer, abgerissen hingeworfener lyrischer Gedanke, d. h. <lb n="pwa_423.010"/> immer und immer wieder spricht sich die Empfindung aus, die durch <lb n="pwa_423.011"/> das Erzählte angeregt wird: neben das beweglich fortschreitende <lb n="pwa_423.012"/> epische Element stellt sich, auf dem gleichen Puncte beharrlich verweilend <lb n="pwa_423.013"/> und den Hörer immer wieder dahin zurückziehend, das lyrische. <lb n="pwa_423.014"/> Diese zwiespältige Mischung von Epik und Lyrik, diese lyrische <lb n="pwa_423.015"/> Beruhigung des episch Bewegten, diese Verbindung von Strophe <lb n="pwa_423.016"/> und Refrain characterisiert besonders die mittelalterliche und moderne <lb n="pwa_423.017"/> Volkspoesie der scandinavischen Völker, die Balladen der Dänen, der <lb n="pwa_423.018"/> Schweden u. s. f. Es characterisiert diess die Volkspoesie der nordischen <lb n="pwa_423.019"/> Völker, insofern es dort wenige Lieder giebt, die nicht in solcher <lb n="pwa_423.020"/> Weise Epik und Lyrik, Strophe und Refrain neben und mit <lb n="pwa_423.021"/> einander aufwiesen. Aber es ist das keineswegs ihr ausschliessliches <lb n="pwa_423.022"/> Eigenthum. Auch die ersten Anfänge der deutschen Lyrik zeigen sich <lb n="pwa_423.023"/> in dieser Form. Den Hauptanfang und die Hauptgrundlage unserer <lb n="pwa_423.024"/> Lyrik bilden geistliche Lieder, und diese waren zuerst, so viel kann <lb n="pwa_423.025"/> man nachweisen, an und für sich durchaus episch, aber zugleich war <lb n="pwa_423.026"/> ihnen immer ein lyrischer Refrain beigegeben, der Ausruf nämlich <lb n="pwa_423.027"/> <hi rendition="#i">Kyrie eleison</hi> oder <hi rendition="#i">Halleluja</hi> oder bloss die Vocale dieses Wortes <lb n="pwa_423.028"/> <hi rendition="#i">aeuia,</hi> oder <hi rendition="#i">euouae,</hi> die Vocale von seculorum amen; und zwar hielt <lb n="pwa_423.029"/> man es beim Vortrage durch Gesang mit diesen beiden Bestandtheilen <lb n="pwa_423.030"/> so, dass Einer die Strophe sang, die Menge nur den Refrain hinzufügte, <lb n="pwa_423.031"/> d. h. Einer erzählte, die Gesammtheit drückte die angeregte <lb n="pwa_423.032"/> Empfindung aus. So heisst es in dem Leich auf den Sieg König <lb n="pwa_423.033"/> Ludwigs III. bei Saucourt (881): Ther kuning reit kuono, Sang lioth <lb n="pwa_423.034"/> frano, Ioh alle saman sungun „Kyrrie leison!“ LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 106. 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 284. Ganz <lb n="pwa_423.035"/> ebenso wie hier bei Beginn einer Schlacht mit einem geistlichen Liede <lb n="pwa_423.036"/> verfuhr man im späteren Mittelalter mit den Tanzliedern. Auch hier <lb n="pwa_423.037"/> begegnen wir häufig eigentlich erzählenden Gedichten, aber mit <lb n="pwa_423.038"/> Refrain, und dieser Refrain pflegt dann aus blossen Interjectionen <lb n="pwa_423.039"/> oder gar erst neugeschaffenen Worten ohne Sinn und Verstand, bloss <lb n="pwa_423.040"/> von abenteuerlich lustigem Klange zu bestehn, wie z. B. <hi rendition="#i">traranuretum <lb n="pwa_423.041"/> traranuriruntundeie</hi> in einem Liede Neidharts von Reuenthal LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [423/0441]
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in sich selbst entzweite Mischung von epischer und lyrischer Poesie, ja pwa_423.002
er kommt auch in reiner Lyrik vor, wie z. B. bei Catull. Es ist früher pwa_423.003
(S. 97) aus der Litteratur mehrerer Völker nachgewiesen worden, dass pwa_423.004
die erste Spaltung der alten einfachen epischen Poesie in epische und pwa_423.005
und lyrische sich darstellt in einer solchen Verbindung von Strophe pwa_423.006
und Refrain: in der Reihe der Strophen schreitet die Erzählung ungesäumt pwa_423.007
vom Anfang dem Ende entgegen: sie bilden das epische Element pwa_423.008
der Dichtung; aber hinter jeder Strophe kehrt nun der Refrain pwa_423.009
wieder, ein kurzer, abgerissen hingeworfener lyrischer Gedanke, d. h. pwa_423.010
immer und immer wieder spricht sich die Empfindung aus, die durch pwa_423.011
das Erzählte angeregt wird: neben das beweglich fortschreitende pwa_423.012
epische Element stellt sich, auf dem gleichen Puncte beharrlich verweilend pwa_423.013
und den Hörer immer wieder dahin zurückziehend, das lyrische. pwa_423.014
Diese zwiespältige Mischung von Epik und Lyrik, diese lyrische pwa_423.015
Beruhigung des episch Bewegten, diese Verbindung von Strophe pwa_423.016
und Refrain characterisiert besonders die mittelalterliche und moderne pwa_423.017
Volkspoesie der scandinavischen Völker, die Balladen der Dänen, der pwa_423.018
Schweden u. s. f. Es characterisiert diess die Volkspoesie der nordischen pwa_423.019
Völker, insofern es dort wenige Lieder giebt, die nicht in solcher pwa_423.020
Weise Epik und Lyrik, Strophe und Refrain neben und mit pwa_423.021
einander aufwiesen. Aber es ist das keineswegs ihr ausschliessliches pwa_423.022
Eigenthum. Auch die ersten Anfänge der deutschen Lyrik zeigen sich pwa_423.023
in dieser Form. Den Hauptanfang und die Hauptgrundlage unserer pwa_423.024
Lyrik bilden geistliche Lieder, und diese waren zuerst, so viel kann pwa_423.025
man nachweisen, an und für sich durchaus episch, aber zugleich war pwa_423.026
ihnen immer ein lyrischer Refrain beigegeben, der Ausruf nämlich pwa_423.027
Kyrie eleison oder Halleluja oder bloss die Vocale dieses Wortes pwa_423.028
aeuia, oder euouae, die Vocale von seculorum amen; und zwar hielt pwa_423.029
man es beim Vortrage durch Gesang mit diesen beiden Bestandtheilen pwa_423.030
so, dass Einer die Strophe sang, die Menge nur den Refrain hinzufügte, pwa_423.031
d. h. Einer erzählte, die Gesammtheit drückte die angeregte pwa_423.032
Empfindung aus. So heisst es in dem Leich auf den Sieg König pwa_423.033
Ludwigs III. bei Saucourt (881): Ther kuning reit kuono, Sang lioth pwa_423.034
frano, Ioh alle saman sungun „Kyrrie leison!“ LB. 14, 106. 15, 284. Ganz pwa_423.035
ebenso wie hier bei Beginn einer Schlacht mit einem geistlichen Liede pwa_423.036
verfuhr man im späteren Mittelalter mit den Tanzliedern. Auch hier pwa_423.037
begegnen wir häufig eigentlich erzählenden Gedichten, aber mit pwa_423.038
Refrain, und dieser Refrain pflegt dann aus blossen Interjectionen pwa_423.039
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traranuriruntundeie in einem Liede Neidharts von Reuenthal LB. 14,
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