Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_418.001 pwa_418.019 pwa_418.025 pwa_418.001 pwa_418.019 pwa_418.025 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0436" n="418"/><lb n="pwa_418.001"/> erst auf das Ablösen des Seiles, welches das Schiff fest hält); Aen. <lb n="pwa_418.002"/> 3, 662: „Postquam altos tetigit fluctus et ad aequora venit“ (zuerst <lb n="pwa_418.003"/> zum Meer, dann auf die Höhe); Aen. 4, 6: „Postera Phoebea lustrabat <lb n="pwa_418.004"/> lampade terras Humentemque Aurora polo dimoverat umbram“ (zuerst <lb n="pwa_418.005"/> Aurora, dann Phöbus). Allerdings verstösst also die Hysterologie gegen <lb n="pwa_418.006"/> die Chronologie und die Logik, aber sie thut es zum Besten der Anschaulichkeit: <lb n="pwa_418.007"/> denn es wird wie bei der Inversion jedesmal die Hauptsache <lb n="pwa_418.008"/> vorangestellt, und indem der Gang der Ereignisse in sich umgekehrt <lb n="pwa_418.009"/> wird, tritt eine Hemmung des Fortschrittes ein, die das Ganze <lb n="pwa_418.010"/> und namentlich jenes Hauptereigniss zu höherer Lebendigkeit erhebt. <lb n="pwa_418.011"/> Auch bei den altdeutschen Dichtern finden sich Beispiele; so in Wolframs <lb n="pwa_418.012"/> Parzival 117, 17: „Liute, die bî ir dâ sint, müeʒen bûwn und riuten“ <lb n="pwa_418.013"/> (das Bebauen ist als das Wesentliche, Wichtigere dem Reuten vorangestellt; <lb n="pwa_418.014"/> ebenso Konrad, Trojanerkr. 6263: „Mit bûwe und mit geriute“). <lb n="pwa_418.015"/> Parz. 119, 3: „Die hieʒ si vaste gâhen, vogele würgn unde vâhen“ <lb n="pwa_418.016"/> (auf das Würgen kommt es hier besonders an). Nibel. 2033, 2 Lachm.: <lb n="pwa_418.017"/> „Slaht uns ellende, und lât uns zuo iu gân hin nider an die wîte.“ <lb n="pwa_418.018"/> Walther 63, 4 Wack.: „Sûmunge schât dem snit und schât der sæte.“</p> <p><lb n="pwa_418.019"/> Diess wären die Wege, auf denen man den bewegten Fortschritt <lb n="pwa_418.020"/> dadurch beruhigt, dass man die Einbildungskraft hindert, vorwärts zu <lb n="pwa_418.021"/> gehen, und sie zwingt, bei dem Gleichen zu verharren; nun sind noch <lb n="pwa_418.022"/> diejenigen Wege zu betrachten, auf denen man sie nöthigt, zu früherhin <lb n="pwa_418.023"/> schon Dagewesenem und Ausgesprochenem zurückzukehren, also <lb n="pwa_418.024"/> die verschiedenen Arten <hi rendition="#b">der Wiederholung des Gleichen.</hi></p> <p><lb n="pwa_418.025"/> Die Wiederholung des Gleichen ist eins der wesentlichsten Stücke in <lb n="pwa_418.026"/> der Technik aller alterthümlichen und volksmässigen Epik (S. 63). Sowie <lb n="pwa_418.027"/> in der Erzählung, im Gespräch die gleiche Vorstellung wiederkehrt, <lb n="pwa_418.028"/> kehren auch die schon früher dafür gebrauchten Worte wieder, und <lb n="pwa_418.029"/> zugleich wird jeder leiseste Anlass benützt, um die gleichen Vorstellungen <lb n="pwa_418.030"/> wiederkehren zu lassen. Am ausgedehntesten, am wenigsten <lb n="pwa_418.031"/> eingeschränkt zeigt sich dieses Verfahren der volksmässigen Epik in <lb n="pwa_418.032"/> den Liedern der Serben und auch der Finnen (Talvj 1, 117; Schröter 143). <lb n="pwa_418.033"/> Gemässigter in solchen Wiederholungen ist das Homerische Epos; doch <lb n="pwa_418.034"/> wird auch hier jeder neue Tag mit den gleichen Worten eingeleitet: <lb n="pwa_418.035"/> <foreign xml:lang="grc">ἦμος δ</foreign>' <foreign xml:lang="grc">ἠριγένεια φάνη ῥοδοδάκτυλος Ἠώς</foreign>, und die vorzüglichsten Personen <lb n="pwa_418.036"/> und Dinge haben ihre beständig wiederkehrenden, schmückenden <lb n="pwa_418.037"/> Beinamen: Achilles heisst schnellfüssig (<foreign xml:lang="grc">πόδας ὠκύς, ποδώκης</foreign>), auch <lb n="pwa_418.038"/> wo er ruhig dasitzt (Il. 1, 489), die Schiffe schnell (<foreign xml:lang="grc">θοαί, ὠκεῖαι</foreign>, <lb n="pwa_418.039"/> <foreign xml:lang="grc">ὠκύποροι</foreign>), auch wo sie am Lande liegen (Il. 1, 421). Noch gemässigter <lb n="pwa_418.040"/> ist die volksmässige altdeutsche Epik: sie kennt beinahe nur die <lb n="pwa_418.041"/> epitheta perpetua, die stehenden Beinamen der Personen, und auch </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [418/0436]
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erst auf das Ablösen des Seiles, welches das Schiff fest hält); Aen. pwa_418.002
3, 662: „Postquam altos tetigit fluctus et ad aequora venit“ (zuerst pwa_418.003
zum Meer, dann auf die Höhe); Aen. 4, 6: „Postera Phoebea lustrabat pwa_418.004
lampade terras Humentemque Aurora polo dimoverat umbram“ (zuerst pwa_418.005
Aurora, dann Phöbus). Allerdings verstösst also die Hysterologie gegen pwa_418.006
die Chronologie und die Logik, aber sie thut es zum Besten der Anschaulichkeit: pwa_418.007
denn es wird wie bei der Inversion jedesmal die Hauptsache pwa_418.008
vorangestellt, und indem der Gang der Ereignisse in sich umgekehrt pwa_418.009
wird, tritt eine Hemmung des Fortschrittes ein, die das Ganze pwa_418.010
und namentlich jenes Hauptereigniss zu höherer Lebendigkeit erhebt. pwa_418.011
Auch bei den altdeutschen Dichtern finden sich Beispiele; so in Wolframs pwa_418.012
Parzival 117, 17: „Liute, die bî ir dâ sint, müeʒen bûwn und riuten“ pwa_418.013
(das Bebauen ist als das Wesentliche, Wichtigere dem Reuten vorangestellt; pwa_418.014
ebenso Konrad, Trojanerkr. 6263: „Mit bûwe und mit geriute“). pwa_418.015
Parz. 119, 3: „Die hieʒ si vaste gâhen, vogele würgn unde vâhen“ pwa_418.016
(auf das Würgen kommt es hier besonders an). Nibel. 2033, 2 Lachm.: pwa_418.017
„Slaht uns ellende, und lât uns zuo iu gân hin nider an die wîte.“ pwa_418.018
Walther 63, 4 Wack.: „Sûmunge schât dem snit und schât der sæte.“
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Diess wären die Wege, auf denen man den bewegten Fortschritt pwa_418.020
dadurch beruhigt, dass man die Einbildungskraft hindert, vorwärts zu pwa_418.021
gehen, und sie zwingt, bei dem Gleichen zu verharren; nun sind noch pwa_418.022
diejenigen Wege zu betrachten, auf denen man sie nöthigt, zu früherhin pwa_418.023
schon Dagewesenem und Ausgesprochenem zurückzukehren, also pwa_418.024
die verschiedenen Arten der Wiederholung des Gleichen.
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Die Wiederholung des Gleichen ist eins der wesentlichsten Stücke in pwa_418.026
der Technik aller alterthümlichen und volksmässigen Epik (S. 63). Sowie pwa_418.027
in der Erzählung, im Gespräch die gleiche Vorstellung wiederkehrt, pwa_418.028
kehren auch die schon früher dafür gebrauchten Worte wieder, und pwa_418.029
zugleich wird jeder leiseste Anlass benützt, um die gleichen Vorstellungen pwa_418.030
wiederkehren zu lassen. Am ausgedehntesten, am wenigsten pwa_418.031
eingeschränkt zeigt sich dieses Verfahren der volksmässigen Epik in pwa_418.032
den Liedern der Serben und auch der Finnen (Talvj 1, 117; Schröter 143). pwa_418.033
Gemässigter in solchen Wiederholungen ist das Homerische Epos; doch pwa_418.034
wird auch hier jeder neue Tag mit den gleichen Worten eingeleitet: pwa_418.035
ἦμος δ' ἠριγένεια φάνη ῥοδοδάκτυλος Ἠώς, und die vorzüglichsten Personen pwa_418.036
und Dinge haben ihre beständig wiederkehrenden, schmückenden pwa_418.037
Beinamen: Achilles heisst schnellfüssig (πόδας ὠκύς, ποδώκης), auch pwa_418.038
wo er ruhig dasitzt (Il. 1, 489), die Schiffe schnell (θοαί, ὠκεῖαι, pwa_418.039
ὠκύποροι), auch wo sie am Lande liegen (Il. 1, 421). Noch gemässigter pwa_418.040
ist die volksmässige altdeutsche Epik: sie kennt beinahe nur die pwa_418.041
epitheta perpetua, die stehenden Beinamen der Personen, und auch
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