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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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entweder was ihren inneren Gehalt oder was bloss ihre äussere Gestalt pwa_409.002
betrifft. Beide Rücksichten sind streng von einander zu sondern, ebenso pwa_409.003
streng, als wir bei der Betrachtung des prosaischen Periodenbaues die pwa_409.004
Anforderungen der Ueberschaulichkeit getrennt haben von denen des pwa_409.005
Wohlklanges (S. 346).

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Wir reden zuerst von der Lebendigkeit in der Anordnung und der pwa_409.007
Verbindung der Worte, insofern man Rücksicht nimmt auf den Gehalt pwa_409.008
derselben.

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Schon früher (S. 369), als wir anfiengen den poetischen Stil zu pwa_409.010
betrachten, ist bemerkt worden, dass die Regeln des prosaischen implicite pwa_409.011
mit für ihn gelten, dass neben der Forderung der Anschaulichkeit pwa_409.012
für die Einbildung auch die der Deutlichkeit für den Verstand pwa_409.013
immer noch fortbestehe. Deshalb findet denn auch Alles, was früherhin pwa_409.014
auf Anlass des deutlichen Stils der Prosa über den Bau der Sätze pwa_409.015
und der Perioden ist bemerkt worden, auch auf den anschaulichen Stil pwa_409.016
der Poesie seine Anwendung; aber keine volle, Alles umfassende Anwendung: pwa_409.017
denn es kommen nun auf diesem Gebiete allerlei Eigenthümlichkeiten pwa_409.018
hinzu, die das gewöhnliche prosaische Verfahren mannigfach pwa_409.019
beschränken und umändern und theilweise aufheben. Und solche pwa_409.020
Eigenthümlichkeiten sind es, von denen wir jetzt zu sprechen haben; pwa_409.021
Eigenthümlichkeiten des poetischen Stils darum, weil sie eintreten um pwa_409.022
eines Zweckes willen, von dem der prosaische Stil nichts weiss, eben pwa_409.023
um des Zweckes der Lebendigkeit willen.

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Von Mitteln zur Bewegung des Ruhigen und zur Verstärkung der pwa_409.025
Bewegung sind nur zwei oder drei anzuführen: die Unverbundenheit, pwa_409.026
die Steigerung und die Abgebrochenheit.

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Die Unverbundenheit oder das Asyndeton besteht darin, dass man pwa_409.028
das Bindewort, welches die eigentliche und gewöhnliche Rede fordert, pwa_409.029
fallen lässt und die einzelnen Vorstellungen unmittelbar eine an die pwa_409.030
andere reiht. Offenbar wird dadurch eine grössere Beweglichkeit, ein pwa_409.031
schnellerer Fortschritt erreicht. Gebraucht man das Bindewort, verknüpft pwa_409.032
man eine Vorstellung mit der anderen, so wird damit auch pwa_409.033
jede spätere Vorstellung auf den Standpunct der früheren zurückgezogen, pwa_409.034
und Alles wird auf einem und demselben Platze festgehalten; pwa_409.035
lässt man dagegen das Bindewort weg, so nimmt auch jede Vorstellung pwa_409.036
ihren Platz für sich ein und einen anderen als die vorhergehende, pwa_409.037
d. h. die Vorstellungen entwickeln sich in einer belebten Succession pwa_409.038
und Progression. So bei Klopstock (Messias 10, 1048): "Er rufte mit pwa_409.039
lechzender Zunge: Mich dürstet! Ruft's, trank, dürstete, bebte, ward pwa_409.040
bleicher, betete, rufte: Vater, in deine Hände befehl' ich meine Seele." pwa_409.041
Oder bei demselben (3, 516): "Jetzt wollten Tausend ihn sehen, dann

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entweder was ihren inneren Gehalt oder was bloss ihre äussere Gestalt pwa_409.002
betrifft. Beide Rücksichten sind streng von einander zu sondern, ebenso pwa_409.003
streng, als wir bei der Betrachtung des prosaischen Periodenbaues die pwa_409.004
Anforderungen der Ueberschaulichkeit getrennt haben von denen des pwa_409.005
Wohlklanges (S. 346).

pwa_409.006
Wir reden zuerst von der Lebendigkeit in der Anordnung und der pwa_409.007
Verbindung der Worte, insofern man Rücksicht nimmt auf den Gehalt pwa_409.008
derselben.

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Schon früher (S. 369), als wir anfiengen den poetischen Stil zu pwa_409.010
betrachten, ist bemerkt worden, dass die Regeln des prosaischen implicite pwa_409.011
mit für ihn gelten, dass neben der Forderung der Anschaulichkeit pwa_409.012
für die Einbildung auch die der Deutlichkeit für den Verstand pwa_409.013
immer noch fortbestehe. Deshalb findet denn auch Alles, was früherhin pwa_409.014
auf Anlass des deutlichen Stils der Prosa über den Bau der Sätze pwa_409.015
und der Perioden ist bemerkt worden, auch auf den anschaulichen Stil pwa_409.016
der Poesie seine Anwendung; aber keine volle, Alles umfassende Anwendung: pwa_409.017
denn es kommen nun auf diesem Gebiete allerlei Eigenthümlichkeiten pwa_409.018
hinzu, die das gewöhnliche prosaische Verfahren mannigfach pwa_409.019
beschränken und umändern und theilweise aufheben. Und solche pwa_409.020
Eigenthümlichkeiten sind es, von denen wir jetzt zu sprechen haben; pwa_409.021
Eigenthümlichkeiten des poetischen Stils darum, weil sie eintreten um pwa_409.022
eines Zweckes willen, von dem der prosaische Stil nichts weiss, eben pwa_409.023
um des Zweckes der Lebendigkeit willen.

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Von Mitteln zur Bewegung des Ruhigen und zur Verstärkung der pwa_409.025
Bewegung sind nur zwei oder drei anzuführen: die Unverbundenheit, pwa_409.026
die Steigerung und die Abgebrochenheit.

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Die Unverbundenheit oder das Asyndeton besteht darin, dass man pwa_409.028
das Bindewort, welches die eigentliche und gewöhnliche Rede fordert, pwa_409.029
fallen lässt und die einzelnen Vorstellungen unmittelbar eine an die pwa_409.030
andere reiht. Offenbar wird dadurch eine grössere Beweglichkeit, ein pwa_409.031
schnellerer Fortschritt erreicht. Gebraucht man das Bindewort, verknüpft pwa_409.032
man eine Vorstellung mit der anderen, so wird damit auch pwa_409.033
jede spätere Vorstellung auf den Standpunct der früheren zurückgezogen, pwa_409.034
und Alles wird auf einem und demselben Platze festgehalten; pwa_409.035
lässt man dagegen das Bindewort weg, so nimmt auch jede Vorstellung pwa_409.036
ihren Platz für sich ein und einen anderen als die vorhergehende, pwa_409.037
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und Progression. So bei Klopstock (Messias 10, 1048): „Er rufte mit pwa_409.039
lechzender Zunge: Mich dürstet! Ruft's, trank, dürstete, bebte, ward pwa_409.040
bleicher, betete, rufte: Vater, in deine Hände befehl' ich meine Seele.“ pwa_409.041
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[409/0427] pwa_409.001 entweder was ihren inneren Gehalt oder was bloss ihre äussere Gestalt pwa_409.002 betrifft. Beide Rücksichten sind streng von einander zu sondern, ebenso pwa_409.003 streng, als wir bei der Betrachtung des prosaischen Periodenbaues die pwa_409.004 Anforderungen der Ueberschaulichkeit getrennt haben von denen des pwa_409.005 Wohlklanges (S. 346). pwa_409.006 Wir reden zuerst von der Lebendigkeit in der Anordnung und der pwa_409.007 Verbindung der Worte, insofern man Rücksicht nimmt auf den Gehalt pwa_409.008 derselben. pwa_409.009 Schon früher (S. 369), als wir anfiengen den poetischen Stil zu pwa_409.010 betrachten, ist bemerkt worden, dass die Regeln des prosaischen implicite pwa_409.011 mit für ihn gelten, dass neben der Forderung der Anschaulichkeit pwa_409.012 für die Einbildung auch die der Deutlichkeit für den Verstand pwa_409.013 immer noch fortbestehe. Deshalb findet denn auch Alles, was früherhin pwa_409.014 auf Anlass des deutlichen Stils der Prosa über den Bau der Sätze pwa_409.015 und der Perioden ist bemerkt worden, auch auf den anschaulichen Stil pwa_409.016 der Poesie seine Anwendung; aber keine volle, Alles umfassende Anwendung: pwa_409.017 denn es kommen nun auf diesem Gebiete allerlei Eigenthümlichkeiten pwa_409.018 hinzu, die das gewöhnliche prosaische Verfahren mannigfach pwa_409.019 beschränken und umändern und theilweise aufheben. Und solche pwa_409.020 Eigenthümlichkeiten sind es, von denen wir jetzt zu sprechen haben; pwa_409.021 Eigenthümlichkeiten des poetischen Stils darum, weil sie eintreten um pwa_409.022 eines Zweckes willen, von dem der prosaische Stil nichts weiss, eben pwa_409.023 um des Zweckes der Lebendigkeit willen. pwa_409.024 Von Mitteln zur Bewegung des Ruhigen und zur Verstärkung der pwa_409.025 Bewegung sind nur zwei oder drei anzuführen: die Unverbundenheit, pwa_409.026 die Steigerung und die Abgebrochenheit. pwa_409.027 Die Unverbundenheit oder das Asyndeton besteht darin, dass man pwa_409.028 das Bindewort, welches die eigentliche und gewöhnliche Rede fordert, pwa_409.029 fallen lässt und die einzelnen Vorstellungen unmittelbar eine an die pwa_409.030 andere reiht. Offenbar wird dadurch eine grössere Beweglichkeit, ein pwa_409.031 schnellerer Fortschritt erreicht. Gebraucht man das Bindewort, verknüpft pwa_409.032 man eine Vorstellung mit der anderen, so wird damit auch pwa_409.033 jede spätere Vorstellung auf den Standpunct der früheren zurückgezogen, pwa_409.034 und Alles wird auf einem und demselben Platze festgehalten; pwa_409.035 lässt man dagegen das Bindewort weg, so nimmt auch jede Vorstellung pwa_409.036 ihren Platz für sich ein und einen anderen als die vorhergehende, pwa_409.037 d. h. die Vorstellungen entwickeln sich in einer belebten Succession pwa_409.038 und Progression. So bei Klopstock (Messias 10, 1048): „Er rufte mit pwa_409.039 lechzender Zunge: Mich dürstet! Ruft's, trank, dürstete, bebte, ward pwa_409.040 bleicher, betete, rufte: Vater, in deine Hände befehl' ich meine Seele.“ pwa_409.041 Oder bei demselben (3, 516): „Jetzt wollten Tausend ihn sehen, dann

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/427>, abgerufen am 09.11.2024.