Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_398.001 pwa_398.024 pwa_398.001 pwa_398.024 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0416" n="398"/><lb n="pwa_398.001"/> noch dadurch verstärkt und erhält einen angenehmen Anflug <lb n="pwa_398.002"/> von Laune, dass man solchen personificierten Dingen und Abstractionen <lb n="pwa_398.003"/> noch die unter Menschen üblichen Titel giebt, z. B. Frau Minne, Frau <lb n="pwa_398.004"/> Ehre, Frau Welt, Frau Abenteuer (die romantische Erzählung, LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 605. <lb n="pwa_398.005"/> 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 785). Während diese Personificationen ganz häufig vorkommen, sind <lb n="pwa_398.006"/> andere, wie es die Sache mit sich bringt, seltener: im Renner, einem <lb n="pwa_398.007"/> Lehrgedichte Hugos von Trimberg vom Jahre 1300, wird z. B. V. 11365 <lb n="pwa_398.008"/> ein kegelschiebender Bauer geschildert, welcher der zu langsam rollenden <lb n="pwa_398.009"/> Kugel nachruft: „Louf, kugel, vrouwe! zouw dîn (eile), liebiu frou, <lb n="pwa_398.010"/> nu zouwe!“ Und in einem Liede singt Christian von Hamle (HMS. 1, 112<hi rendition="#sup">b</hi>): <lb n="pwa_398.011"/> „Her Anger, waʒ ir iuch fröiden muostent nieten dô mîn frowe kom <lb n="pwa_398.012"/> gegân! ... Erloubet mir, her Grüener Plân, daʒ ich mîne füeʒe setzen <lb n="pwa_398.013"/> müeʒe dâ mîn frowe hât gegân.“ Auch Walther von der Vogelweide macht <lb n="pwa_398.014"/> von derartigen Personificationen gern Gebrauch; so Hêr Meie (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, <lb n="pwa_398.015"/> 395. 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 575); Frô Unfuoge (d. h. Frau Unkunst, LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 399. 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 578); <lb n="pwa_398.016"/> ja er redet sogar den Almosenstock an, den Pabst Innocenz III. in <lb n="pwa_398.017"/> Deutschland aufstellte, um Beiträge für einen Kreuzzug zu sammeln: <lb n="pwa_398.018"/> „Sagt an, hêr Stoc, hât iuch der bâbest her gesendet, daʒ ir in rîchet <lb n="pwa_398.019"/> und uns Tiutschen ermet unde pfendet? (LB. 1<hi rendition="#sup">4</hi>, 406. 1<hi rendition="#sup">5</hi>, 584) Durch <lb n="pwa_398.020"/> diese lebendige Sinnlichkeit der Ausführung hat sich ein früherer Ausleger <lb n="pwa_398.021"/> Walthers, Gleim, verleiten lassen, den Herrn Stock für einen <lb n="pwa_398.022"/> wahren Namen zu halten und die Uebersetzung des Gedichtes zu überschreiben: <lb n="pwa_398.023"/> An Herrn Stock, päbstlichen Legaten in Deutschland.</p> <p><lb n="pwa_398.024"/> Gewöhnlich aber, wie schon vorher gesagt, braucht man die <lb n="pwa_398.025"/> Personification bei der Allegorie und verstärkt die letztere durch die <lb n="pwa_398.026"/> noch hinzutretende Personification; schon die Allegorie belebt das <lb n="pwa_398.027"/> Unsinnliche oder minder Sinnliche durch die Aeusserlichkeit und historische <lb n="pwa_398.028"/> Beweglichkeit, womit sie es umkleidet; noch höheres Leben <lb n="pwa_398.029"/> erhält sie, wenn diess Aeusserliche gar als eine Person erscheint, in <lb n="pwa_398.030"/> menschlicher Weise handelnd und leidend. Beispiele allegorischer Personification <lb n="pwa_398.031"/> sind häufig: vgl. Hesekiel 16, wo Jerusalem als Weib personificiert <lb n="pwa_398.032"/> erscheint und die ganze Geschichte der Stadt und des Volkes <lb n="pwa_398.033"/> in der Lebensgeschichte dieses einen Weibes anschaulich concentriert <lb n="pwa_398.034"/> wird. So ferner die Allegorie, die sich durch Platos Phaedrus hindurchzieht, <lb n="pwa_398.035"/> indem die Seele des Menschen als ein Wagenlenker mit <lb n="pwa_398.036"/> zwei Rossen, einem weissen und einem schwarzen, dargestellt wird; <lb n="pwa_398.037"/> so in Göthes Zueignung seiner Gedichte (LB. 2, 1065) die Allegorie <lb n="pwa_398.038"/> der Wahrheit; so in Schillers Mädchen aus der Fremde (LB. 2, 1133) <lb n="pwa_398.039"/> die Allegorie der Dichtkunst; so endlich in einem Gedichte von Tieck, <lb n="pwa_398.040"/> die Phantasie (LB. 2, 1335), die ausgeführte Allegorie eben der <lb n="pwa_398.041"/> Phantasie, der Vernunft, der Erinnerung, des Schlafs. Hier überall </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [398/0416]
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noch dadurch verstärkt und erhält einen angenehmen Anflug pwa_398.002
von Laune, dass man solchen personificierten Dingen und Abstractionen pwa_398.003
noch die unter Menschen üblichen Titel giebt, z. B. Frau Minne, Frau pwa_398.004
Ehre, Frau Welt, Frau Abenteuer (die romantische Erzählung, LB. 14, 605. pwa_398.005
15, 785). Während diese Personificationen ganz häufig vorkommen, sind pwa_398.006
andere, wie es die Sache mit sich bringt, seltener: im Renner, einem pwa_398.007
Lehrgedichte Hugos von Trimberg vom Jahre 1300, wird z. B. V. 11365 pwa_398.008
ein kegelschiebender Bauer geschildert, welcher der zu langsam rollenden pwa_398.009
Kugel nachruft: „Louf, kugel, vrouwe! zouw dîn (eile), liebiu frou, pwa_398.010
nu zouwe!“ Und in einem Liede singt Christian von Hamle (HMS. 1, 112b): pwa_398.011
„Her Anger, waʒ ir iuch fröiden muostent nieten dô mîn frowe kom pwa_398.012
gegân! ... Erloubet mir, her Grüener Plân, daʒ ich mîne füeʒe setzen pwa_398.013
müeʒe dâ mîn frowe hât gegân.“ Auch Walther von der Vogelweide macht pwa_398.014
von derartigen Personificationen gern Gebrauch; so Hêr Meie (LB. 14, pwa_398.015
395. 15, 575); Frô Unfuoge (d. h. Frau Unkunst, LB. 14, 399. 15, 578); pwa_398.016
ja er redet sogar den Almosenstock an, den Pabst Innocenz III. in pwa_398.017
Deutschland aufstellte, um Beiträge für einen Kreuzzug zu sammeln: pwa_398.018
„Sagt an, hêr Stoc, hât iuch der bâbest her gesendet, daʒ ir in rîchet pwa_398.019
und uns Tiutschen ermet unde pfendet? (LB. 14, 406. 15, 584) Durch pwa_398.020
diese lebendige Sinnlichkeit der Ausführung hat sich ein früherer Ausleger pwa_398.021
Walthers, Gleim, verleiten lassen, den Herrn Stock für einen pwa_398.022
wahren Namen zu halten und die Uebersetzung des Gedichtes zu überschreiben: pwa_398.023
An Herrn Stock, päbstlichen Legaten in Deutschland.
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Gewöhnlich aber, wie schon vorher gesagt, braucht man die pwa_398.025
Personification bei der Allegorie und verstärkt die letztere durch die pwa_398.026
noch hinzutretende Personification; schon die Allegorie belebt das pwa_398.027
Unsinnliche oder minder Sinnliche durch die Aeusserlichkeit und historische pwa_398.028
Beweglichkeit, womit sie es umkleidet; noch höheres Leben pwa_398.029
erhält sie, wenn diess Aeusserliche gar als eine Person erscheint, in pwa_398.030
menschlicher Weise handelnd und leidend. Beispiele allegorischer Personification pwa_398.031
sind häufig: vgl. Hesekiel 16, wo Jerusalem als Weib personificiert pwa_398.032
erscheint und die ganze Geschichte der Stadt und des Volkes pwa_398.033
in der Lebensgeschichte dieses einen Weibes anschaulich concentriert pwa_398.034
wird. So ferner die Allegorie, die sich durch Platos Phaedrus hindurchzieht, pwa_398.035
indem die Seele des Menschen als ein Wagenlenker mit pwa_398.036
zwei Rossen, einem weissen und einem schwarzen, dargestellt wird; pwa_398.037
so in Göthes Zueignung seiner Gedichte (LB. 2, 1065) die Allegorie pwa_398.038
der Wahrheit; so in Schillers Mädchen aus der Fremde (LB. 2, 1133) pwa_398.039
die Allegorie der Dichtkunst; so endlich in einem Gedichte von Tieck, pwa_398.040
die Phantasie (LB. 2, 1335), die ausgeführte Allegorie eben der pwa_398.041
Phantasie, der Vernunft, der Erinnerung, des Schlafs. Hier überall
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