Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_361.001 pwa_361.019 pwa_361.040 pwa_361.001 pwa_361.019 pwa_361.040 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0379" n="361"/> <p><lb n="pwa_361.001"/> Eben jenes Gesetzes wegen ist endlich auch Rücksicht zu nehmen <lb n="pwa_361.002"/> auf Geschlecht und Zahl der Worte: man darf auf ein Neutrum wieder <lb n="pwa_361.003"/> nur in neutraler, auf einen Singular wieder nur in singularischer <lb n="pwa_361.004"/> Form zurückdeuten. Zuweilen widerstreitet aber doch die grammatische <lb n="pwa_361.005"/> Form zu sehr der Wirklichkeit und dem concreten Begriff: da <lb n="pwa_361.006"/> gewinnt denn im weiteren Gange der Rede das natürliche Geschlecht <lb n="pwa_361.007"/> alsbald auch das Uebergewicht, wenigstens wo man nicht gar zu <lb n="pwa_361.008"/> pedantisch sprechen will. Es werden also z. B. Weib, Fräulein, Mädchen, <lb n="pwa_361.009"/> Frauenzimmer, Kind, Väterchen, Mütterchen im weiteren Verlaufe <lb n="pwa_361.010"/> als feminina oder masculina verstanden und dem entsprechend <lb n="pwa_361.011"/> persönliche Singulare von collectivem Sinn als Plurale. Z. B. „Die <lb n="pwa_361.012"/> Menge, die dich zerstreuen, werden so viele sein als ein dünner Staub“, <lb n="pwa_361.013"/> Jes. 29, 5. „Dô sand ein rât nâch im, und muotetent im an in ze <lb n="pwa_361.014"/> sagen“ u. s. w. Justinger 78. „Eine falsche Zunge hasset, der ihn strafet“ <lb n="pwa_361.015"/> Sprüche 26, 28. „Ein Mädchen schön und wunderbar. Sie war nicht <lb n="pwa_361.016"/> in dem Thal geboren“ (Schiller). Dergleichen Veränderungen von genus <lb n="pwa_361.017"/> und numerus nennt die griechische Grammatik <hi rendition="#i">synesis</hi> (d. h. Zusammentreffen, <lb n="pwa_361.018"/> Zusammenfliessen), die lateinische <hi rendition="#i">constructio ad sensum.</hi></p> <p><lb n="pwa_361.019"/> Eben jenes Grundgesetz nun und eben solche Freiheiten in der <lb n="pwa_361.020"/> Beobachtung desselben walten auch bei der Verknüpfung ganzer Sätze. <lb n="pwa_361.021"/> Namentlich kommen hier die zusammengezogenen Sätze in Betracht. <lb n="pwa_361.022"/> Verbundene, nämlich durch eigentliche Bindewörter verbundene Sätze <lb n="pwa_361.023"/> können nur dann zusammengezogen werden, d. h. es ist nur dann <lb n="pwa_361.024"/> erlaubt, den Begriff oder die Begriffe, die sie mit einander gemein <lb n="pwa_361.025"/> haben, bloss einmal auszusprechen, sobald diese Begriffe nicht nur <lb n="pwa_361.026"/> dem Inhalte, sondern auch der grammatischen Form nach mit einander <lb n="pwa_361.027"/> übereinstimmen und so in beiden Beziehungen wirklich beidemal <lb n="pwa_361.028"/> dieselben sind. Es genügt z. B. nicht, dass in zwei verbundenen <lb n="pwa_361.029"/> Sätzen der Begriff <hi rendition="#i">Herr</hi> bloss dem Inhalte nach vorhanden sei: er <lb n="pwa_361.030"/> muss auch, wenn auf diesem Puncte die Zusammenziehung vor sich gehn <lb n="pwa_361.031"/> soll, in beiden Sätzen gleiche Form haben, in beiden Subject oder in <lb n="pwa_361.032"/> beiden Object sein. Man darf also nicht sagen: „Das erst ist die vollkommene <lb n="pwa_361.033"/> Freiheit, einen Herrn weder zu haben noch zu sein“ (statt: <lb n="pwa_361.034"/> weder einen Herrn zu haben, noch ein Herr zu sein). Es darf aber <lb n="pwa_361.035"/> auch nicht umgekehrter Weise zwar die Form beidemal die gleiche, <lb n="pwa_361.036"/> aber der Inhalt ein verschiedener sein, wie z. B. in folgenden Perioden: <lb n="pwa_361.037"/> „Den älteren Sohn hatte der Fürst verloren und nur den jüngeren <lb n="pwa_361.038"/> noch am Leben.“ „Der Spaziergang erstreckt sich der ganzen Länge <lb n="pwa_361.039"/> des Seeufers nach, nimmt aber schon um vier Uhr ein Ende.“</p> <p><lb n="pwa_361.040"/> Ungenauigkeiten kommen namentlich bei der Zusammenziehung <lb n="pwa_361.041"/> verbundener Nebensätze vor. In der älteren Sprache findet sich dergleichen </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [361/0379]
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Eben jenes Gesetzes wegen ist endlich auch Rücksicht zu nehmen pwa_361.002
auf Geschlecht und Zahl der Worte: man darf auf ein Neutrum wieder pwa_361.003
nur in neutraler, auf einen Singular wieder nur in singularischer pwa_361.004
Form zurückdeuten. Zuweilen widerstreitet aber doch die grammatische pwa_361.005
Form zu sehr der Wirklichkeit und dem concreten Begriff: da pwa_361.006
gewinnt denn im weiteren Gange der Rede das natürliche Geschlecht pwa_361.007
alsbald auch das Uebergewicht, wenigstens wo man nicht gar zu pwa_361.008
pedantisch sprechen will. Es werden also z. B. Weib, Fräulein, Mädchen, pwa_361.009
Frauenzimmer, Kind, Väterchen, Mütterchen im weiteren Verlaufe pwa_361.010
als feminina oder masculina verstanden und dem entsprechend pwa_361.011
persönliche Singulare von collectivem Sinn als Plurale. Z. B. „Die pwa_361.012
Menge, die dich zerstreuen, werden so viele sein als ein dünner Staub“, pwa_361.013
Jes. 29, 5. „Dô sand ein rât nâch im, und muotetent im an in ze pwa_361.014
sagen“ u. s. w. Justinger 78. „Eine falsche Zunge hasset, der ihn strafet“ pwa_361.015
Sprüche 26, 28. „Ein Mädchen schön und wunderbar. Sie war nicht pwa_361.016
in dem Thal geboren“ (Schiller). Dergleichen Veränderungen von genus pwa_361.017
und numerus nennt die griechische Grammatik synesis (d. h. Zusammentreffen, pwa_361.018
Zusammenfliessen), die lateinische constructio ad sensum.
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Eben jenes Grundgesetz nun und eben solche Freiheiten in der pwa_361.020
Beobachtung desselben walten auch bei der Verknüpfung ganzer Sätze. pwa_361.021
Namentlich kommen hier die zusammengezogenen Sätze in Betracht. pwa_361.022
Verbundene, nämlich durch eigentliche Bindewörter verbundene Sätze pwa_361.023
können nur dann zusammengezogen werden, d. h. es ist nur dann pwa_361.024
erlaubt, den Begriff oder die Begriffe, die sie mit einander gemein pwa_361.025
haben, bloss einmal auszusprechen, sobald diese Begriffe nicht nur pwa_361.026
dem Inhalte, sondern auch der grammatischen Form nach mit einander pwa_361.027
übereinstimmen und so in beiden Beziehungen wirklich beidemal pwa_361.028
dieselben sind. Es genügt z. B. nicht, dass in zwei verbundenen pwa_361.029
Sätzen der Begriff Herr bloss dem Inhalte nach vorhanden sei: er pwa_361.030
muss auch, wenn auf diesem Puncte die Zusammenziehung vor sich gehn pwa_361.031
soll, in beiden Sätzen gleiche Form haben, in beiden Subject oder in pwa_361.032
beiden Object sein. Man darf also nicht sagen: „Das erst ist die vollkommene pwa_361.033
Freiheit, einen Herrn weder zu haben noch zu sein“ (statt: pwa_361.034
weder einen Herrn zu haben, noch ein Herr zu sein). Es darf aber pwa_361.035
auch nicht umgekehrter Weise zwar die Form beidemal die gleiche, pwa_361.036
aber der Inhalt ein verschiedener sein, wie z. B. in folgenden Perioden: pwa_361.037
„Den älteren Sohn hatte der Fürst verloren und nur den jüngeren pwa_361.038
noch am Leben.“ „Der Spaziergang erstreckt sich der ganzen Länge pwa_361.039
des Seeufers nach, nimmt aber schon um vier Uhr ein Ende.“
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Ungenauigkeiten kommen namentlich bei der Zusammenziehung pwa_361.041
verbundener Nebensätze vor. In der älteren Sprache findet sich dergleichen
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