Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_357.001 pwa_357.038 pwa_357.001 pwa_357.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0375" n="357"/><lb n="pwa_357.001"/> Willirams Erklärung des Hohen Liedes 33, 26: „Ih gescaffo daʒ die <lb n="pwa_357.002"/> keisere unte die cuningâ unte andere werltvurston die nu sizzent in <lb n="pwa_357.003"/> demo hêrstuole, unte sie wider dir superbiunt mit liste unte mit grimme <lb n="pwa_357.004"/> alse die pardi unte die lewon, daʒ sie adorabunt vestigia pedum <lb n="pwa_357.005"/> tuorum.“ Was dann ferner die Einschaltung von Nebensätzen in Nebensätzen <lb n="pwa_357.006"/> anbelangt, so muss man sich besonders hüten, den zweiten <lb n="pwa_357.007"/> Nebensatz gleich hinter dem Fügeworte des ihm übergeordneten ersten <lb n="pwa_357.008"/> einzuschalten: es muss jedesmal wenigstens auch schon das Subject <lb n="pwa_357.009"/> da gewesen sein, damit man doch einigermassen etwas von dem Inhalt <lb n="pwa_357.010"/> des oberen Nebensatzes in Händen habe und dadurch befähigt sei, <lb n="pwa_357.011"/> das Verhältniss beider Sätze zu einander aufzufassen und zu beurtheilen. <lb n="pwa_357.012"/> Es ist also falsch, wenn Wilh. von Humboldt sagt: „Es genügt, <lb n="pwa_357.013"/> wenn, da der Geist immer unbewusst danach verfährt, er für jeden <lb n="pwa_357.014"/> einzelnen Theil einen solchen Ausdruck findet, der ihn wieder einen <lb n="pwa_357.015"/> andern mit richtiger Bestimmtheit auffassen lässt,“ eine Periode, die <lb n="pwa_357.016"/> gegen die Regel fehlt, welche sie selber ausspricht. Bei einer solchen <lb n="pwa_357.017"/> Behandlung der Nebensätze wird die Periode ungefüge und unverständlich, <lb n="pwa_357.018"/> und es ist beständiger Anlass gegeben zu sogenannten <lb n="pwa_357.019"/> Anacoluthien, zu fehlerhaften Constructionsveränderungen. So ist es <lb n="pwa_357.020"/> z. B. ein gewöhnlicher Fehler, Nebensätze, welche durch einen temporalen, <lb n="pwa_357.021"/> causalen oder conditionalen Zwischensatz unterbrochen sind, <lb n="pwa_357.022"/> nachher so weiter zu führen, als wären sie selbst unabhängige Hauptsätze. <lb n="pwa_357.023"/> Z. B. „Klopstock hat sich gewisse Gegenstände der Religion <lb n="pwa_357.024"/> so eingedrückt, dass, wenn er im Laufe der Erzählung oder der <lb n="pwa_357.025"/> Betrachtung auf sie geräth, so verweilt er dabei und bricht in Empfindungen <lb n="pwa_357.026"/> aus, die bei dem Leser nicht genug vorbereitet sind.“ Aehnliche <lb n="pwa_357.027"/> Beispiele in Luthers Bibelübersetzung: 1 Kön. 9, 8; 2 Kön. 4, 10; <lb n="pwa_357.028"/> 18, 21; Jes. 36, 6; Luc. 16, 26; Joh. 11, 22. 31; Röm. 3, 19; Hebr. 13, 23. <lb n="pwa_357.029"/> In der alten Sprache kommen dergleichen steife Satzgebäude nicht <lb n="pwa_357.030"/> vor: entweder erlaubte man sich eben noch Anacoluthien, man beschloss <lb n="pwa_357.031"/> den Satz anders, als er begonnen war, z. B. „Sô werdent dîne doctores <lb n="pwa_357.032"/> quasi botri vineae, wante sie iro auditores, die sie zêrist ziehent mit <lb n="pwa_357.033"/> lacte historiae, sô sie ieht robustiores sensibus werdent, sô trenchent <lb n="pwa_357.034"/> sie se mit vino mysteriorum“, Williram 65, 4; oder man pflegte da <lb n="pwa_357.035"/> den zweiten Nebensatz voranzustellen, z. B. „Tô kebôt er, sie nerûmdin <lb n="pwa_357.036"/> Ravenna êr demo tagedinge daʒ er in legeta, daʒ man sie under ougôn <lb n="pwa_357.037"/> zeichendi“ (im Antlitz brandmarken sollte), Boeth. 23.</p> <p><lb n="pwa_357.038"/> Die Einschaltung von Nebensätzen in Nebensätzen ist besonders <lb n="pwa_357.039"/> dann ein Uebelstand, wenn sie stufenweise immer weiter schreitet, <lb n="pwa_357.040"/> wenn in den eingeschalteten wieder einer eingeschaltet wird u. s. f., <lb n="pwa_357.041"/> so dass man zuerst eine Reihe von lauter Satzanfängen, dann eine </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [357/0375]
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Willirams Erklärung des Hohen Liedes 33, 26: „Ih gescaffo daʒ die pwa_357.002
keisere unte die cuningâ unte andere werltvurston die nu sizzent in pwa_357.003
demo hêrstuole, unte sie wider dir superbiunt mit liste unte mit grimme pwa_357.004
alse die pardi unte die lewon, daʒ sie adorabunt vestigia pedum pwa_357.005
tuorum.“ Was dann ferner die Einschaltung von Nebensätzen in Nebensätzen pwa_357.006
anbelangt, so muss man sich besonders hüten, den zweiten pwa_357.007
Nebensatz gleich hinter dem Fügeworte des ihm übergeordneten ersten pwa_357.008
einzuschalten: es muss jedesmal wenigstens auch schon das Subject pwa_357.009
da gewesen sein, damit man doch einigermassen etwas von dem Inhalt pwa_357.010
des oberen Nebensatzes in Händen habe und dadurch befähigt sei, pwa_357.011
das Verhältniss beider Sätze zu einander aufzufassen und zu beurtheilen. pwa_357.012
Es ist also falsch, wenn Wilh. von Humboldt sagt: „Es genügt, pwa_357.013
wenn, da der Geist immer unbewusst danach verfährt, er für jeden pwa_357.014
einzelnen Theil einen solchen Ausdruck findet, der ihn wieder einen pwa_357.015
andern mit richtiger Bestimmtheit auffassen lässt,“ eine Periode, die pwa_357.016
gegen die Regel fehlt, welche sie selber ausspricht. Bei einer solchen pwa_357.017
Behandlung der Nebensätze wird die Periode ungefüge und unverständlich, pwa_357.018
und es ist beständiger Anlass gegeben zu sogenannten pwa_357.019
Anacoluthien, zu fehlerhaften Constructionsveränderungen. So ist es pwa_357.020
z. B. ein gewöhnlicher Fehler, Nebensätze, welche durch einen temporalen, pwa_357.021
causalen oder conditionalen Zwischensatz unterbrochen sind, pwa_357.022
nachher so weiter zu führen, als wären sie selbst unabhängige Hauptsätze. pwa_357.023
Z. B. „Klopstock hat sich gewisse Gegenstände der Religion pwa_357.024
so eingedrückt, dass, wenn er im Laufe der Erzählung oder der pwa_357.025
Betrachtung auf sie geräth, so verweilt er dabei und bricht in Empfindungen pwa_357.026
aus, die bei dem Leser nicht genug vorbereitet sind.“ Aehnliche pwa_357.027
Beispiele in Luthers Bibelübersetzung: 1 Kön. 9, 8; 2 Kön. 4, 10; pwa_357.028
18, 21; Jes. 36, 6; Luc. 16, 26; Joh. 11, 22. 31; Röm. 3, 19; Hebr. 13, 23. pwa_357.029
In der alten Sprache kommen dergleichen steife Satzgebäude nicht pwa_357.030
vor: entweder erlaubte man sich eben noch Anacoluthien, man beschloss pwa_357.031
den Satz anders, als er begonnen war, z. B. „Sô werdent dîne doctores pwa_357.032
quasi botri vineae, wante sie iro auditores, die sie zêrist ziehent mit pwa_357.033
lacte historiae, sô sie ieht robustiores sensibus werdent, sô trenchent pwa_357.034
sie se mit vino mysteriorum“, Williram 65, 4; oder man pflegte da pwa_357.035
den zweiten Nebensatz voranzustellen, z. B. „Tô kebôt er, sie nerûmdin pwa_357.036
Ravenna êr demo tagedinge daʒ er in legeta, daʒ man sie under ougôn pwa_357.037
zeichendi“ (im Antlitz brandmarken sollte), Boeth. 23.
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dann ein Uebelstand, wenn sie stufenweise immer weiter schreitet, pwa_357.040
wenn in den eingeschalteten wieder einer eingeschaltet wird u. s. f., pwa_357.041
so dass man zuerst eine Reihe von lauter Satzanfängen, dann eine
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