Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_331.001 pwa_331.012 pwa_331.022 pwa_331.001 pwa_331.012 pwa_331.022 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0349" n="331"/><lb n="pwa_331.001"/> gesagt werden, sondern <hi rendition="#i">Gelahrtheit;</hi> nicht <hi rendition="#i">Wittwe,</hi> sondern <hi rendition="#i">Wittib;</hi> <lb n="pwa_331.002"/> nicht <hi rendition="#i">da</hi> und <hi rendition="#i">weil,</hi> sondern <hi rendition="#i">sintemal</hi> und <hi rendition="#i">dieweil.</hi> Indem man so der <lb n="pwa_331.003"/> ganzen Darstellung alter Dinge den Ton und die Farbe vergangener <lb n="pwa_331.004"/> Jahrhunderte giebt, glaubt man sie anschaulicher zu machen, als das <lb n="pwa_331.005"/> mit den gewöhnlichen Worten möglich wäre: es kommt aber hier <lb n="pwa_331.006"/> zunächst auf Deutlichkeit an, und selbst die Anschaulichkeit wird <lb n="pwa_331.007"/> wenigstens auf solchem Wege nicht erlangt, wird nicht dadurch erlangt, <lb n="pwa_331.008"/> dass man Alterthümlichkeiten der verschiedensten Art, von der verschiedensten <lb n="pwa_331.009"/> Gestalt und Farbe aus allen verflossenen Jahrhunderten <lb n="pwa_331.010"/> wie in einer Rumpelkammer bunt und verworren durch einander wirft: <lb n="pwa_331.011"/> dergleichen verwirrt eher die Anschauung, als es dieselbe befördert.</p> <p><lb n="pwa_331.012"/> 2) Als <hi rendition="#b">Provincialismus</hi> wird ein Wort zurückgewiesen, wenn es <lb n="pwa_331.013"/> sich mitten in die allgemein gültige Schriftsprache eindrängen will, <lb n="pwa_331.014"/> während es doch dieser fremd und nur in der oder jener Mundart <lb n="pwa_331.015"/> zu Hause ist, nur in der oder jener Provinz verstanden wird. Die <lb n="pwa_331.016"/> Mundarten sind überall nur ältere Gestaltungen der Sprache, die stehn <lb n="pwa_331.017"/> geblieben und in diesem Stillstande mehr oder weniger erstarrt und <lb n="pwa_331.018"/> verarmt sind: viele Provincialismen werden also zugleich noch deshalb <lb n="pwa_331.019"/> verwerflich sein, weil sie auch Archaismen sind; und umgekehrt. <lb n="pwa_331.020"/> Dennoch muss man sich wohl vorsehen, ehe man einen Provincialismus <lb n="pwa_331.021"/> für einen Fehler erklärt. Und das aus doppeltem Grunde.</p> <p><lb n="pwa_331.022"/> Einmal nimmt jede Schriftsprache ihren ersten Ursprung innerhalb <lb n="pwa_331.023"/> der engen Grenzen einer Provinz, jede Schriftsprache ist zuerst nur eine <lb n="pwa_331.024"/> vereinzelte und abgeschlossene Mundart gewesen, wie alle übrigen, <lb n="pwa_331.025"/> aber von da an, wo sie eben Schriftsprache wird, erweitern sich diese <lb n="pwa_331.026"/> ihre Schranken immer mehr und mehr, mit jedem neuen Geschlecht <lb n="pwa_331.027"/> gewinnt sie an Ausdehnung, die Grenzen werden immer unbestimmter, <lb n="pwa_331.028"/> fort und fort gehn aus der Sprechweise bald dieser, bald jener andern <lb n="pwa_331.029"/> Provinz Ausdrücke in sie über, und zuletzt ist sie so zu sagen überall <lb n="pwa_331.030"/> und nirgend mehr zu Hause, so dass selbst die Mundart, aus der sie <lb n="pwa_331.031"/> zuerst ihren Ursprung genommen hat, nach und nach zu einem von <lb n="pwa_331.032"/> ihr verschiedenen blossen Provincialismus herabsinkt. So ist es überall <lb n="pwa_331.033"/> gewesen; die <foreign xml:lang="grc">κοινή</foreign> der Griechen war nicht mehr der attische, die <lb n="pwa_331.034"/> Schriftsprache der Italiäner nicht mehr der florentinische Dialect; so <lb n="pwa_331.035"/> auch in Deutschland. Verfolgt man unsere Schriftsprache bis auf ihre <lb n="pwa_331.036"/> ersten und äussersten Anfänge zurück, so ist sie freilich eine Mundart <lb n="pwa_331.037"/> gewesen, die Mundart Obersachsens, d. h. ein Gemisch von Ober- <lb n="pwa_331.038"/> und Niederdeutsch, worin jedoch das Oberdeutsch überwog. Da sie <lb n="pwa_331.039"/> aber eben aus solch einem Gemisch hervorgegangen ist, so hat es <lb n="pwa_331.040"/> um so leichter geschehen können, dass sie in ihrer weiteren Fortentwickelung <lb n="pwa_331.041"/> sich nun aus dieser, nun aus jener Mundart, nun des oberen, </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [331/0349]
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gesagt werden, sondern Gelahrtheit; nicht Wittwe, sondern Wittib; pwa_331.002
nicht da und weil, sondern sintemal und dieweil. Indem man so der pwa_331.003
ganzen Darstellung alter Dinge den Ton und die Farbe vergangener pwa_331.004
Jahrhunderte giebt, glaubt man sie anschaulicher zu machen, als das pwa_331.005
mit den gewöhnlichen Worten möglich wäre: es kommt aber hier pwa_331.006
zunächst auf Deutlichkeit an, und selbst die Anschaulichkeit wird pwa_331.007
wenigstens auf solchem Wege nicht erlangt, wird nicht dadurch erlangt, pwa_331.008
dass man Alterthümlichkeiten der verschiedensten Art, von der verschiedensten pwa_331.009
Gestalt und Farbe aus allen verflossenen Jahrhunderten pwa_331.010
wie in einer Rumpelkammer bunt und verworren durch einander wirft: pwa_331.011
dergleichen verwirrt eher die Anschauung, als es dieselbe befördert.
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2) Als Provincialismus wird ein Wort zurückgewiesen, wenn es pwa_331.013
sich mitten in die allgemein gültige Schriftsprache eindrängen will, pwa_331.014
während es doch dieser fremd und nur in der oder jener Mundart pwa_331.015
zu Hause ist, nur in der oder jener Provinz verstanden wird. Die pwa_331.016
Mundarten sind überall nur ältere Gestaltungen der Sprache, die stehn pwa_331.017
geblieben und in diesem Stillstande mehr oder weniger erstarrt und pwa_331.018
verarmt sind: viele Provincialismen werden also zugleich noch deshalb pwa_331.019
verwerflich sein, weil sie auch Archaismen sind; und umgekehrt. pwa_331.020
Dennoch muss man sich wohl vorsehen, ehe man einen Provincialismus pwa_331.021
für einen Fehler erklärt. Und das aus doppeltem Grunde.
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Einmal nimmt jede Schriftsprache ihren ersten Ursprung innerhalb pwa_331.023
der engen Grenzen einer Provinz, jede Schriftsprache ist zuerst nur eine pwa_331.024
vereinzelte und abgeschlossene Mundart gewesen, wie alle übrigen, pwa_331.025
aber von da an, wo sie eben Schriftsprache wird, erweitern sich diese pwa_331.026
ihre Schranken immer mehr und mehr, mit jedem neuen Geschlecht pwa_331.027
gewinnt sie an Ausdehnung, die Grenzen werden immer unbestimmter, pwa_331.028
fort und fort gehn aus der Sprechweise bald dieser, bald jener andern pwa_331.029
Provinz Ausdrücke in sie über, und zuletzt ist sie so zu sagen überall pwa_331.030
und nirgend mehr zu Hause, so dass selbst die Mundart, aus der sie pwa_331.031
zuerst ihren Ursprung genommen hat, nach und nach zu einem von pwa_331.032
ihr verschiedenen blossen Provincialismus herabsinkt. So ist es überall pwa_331.033
gewesen; die κοινή der Griechen war nicht mehr der attische, die pwa_331.034
Schriftsprache der Italiäner nicht mehr der florentinische Dialect; so pwa_331.035
auch in Deutschland. Verfolgt man unsere Schriftsprache bis auf ihre pwa_331.036
ersten und äussersten Anfänge zurück, so ist sie freilich eine Mundart pwa_331.037
gewesen, die Mundart Obersachsens, d. h. ein Gemisch von Ober- pwa_331.038
und Niederdeutsch, worin jedoch das Oberdeutsch überwog. Da sie pwa_331.039
aber eben aus solch einem Gemisch hervorgegangen ist, so hat es pwa_331.040
um so leichter geschehen können, dass sie in ihrer weiteren Fortentwickelung pwa_331.041
sich nun aus dieser, nun aus jener Mundart, nun des oberen,
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