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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Wir wollen nicht wiederholen, was früher (S. 235) über die gewöhnliche pwa_311.002
unklare Vermischung von Rhetorik und Stilistik ist gesagt worden. pwa_311.003
Aber an Eine Bemerkung darf doch vielleicht wieder erinnert pwa_311.004
werden, welche sich uns schon aufgedrängt hat, als wir die Poetik zu pwa_311.005
besprechen anfiengen. Der Zweck einer Poetik, einer Rhetorik kann pwa_311.006
niemals der sein, den, der sie studiert oder ein Lehrbuch liest, zu einem pwa_311.007
Dichter, einem Redner zu machen. Ist das Bestreben dessen, der sie pwa_311.008
lehrt oder ein Lehrbuch schreibt, vernünftig und gewissenhaft, so geht pwa_311.009
er nur darauf aus, die Poesie und die prosaische Litteratur, wie sie pwa_311.010
vor uns liegt, auf die Gesetze hin zu betrachten, die in ihnen walten, pwa_311.011
diese Gesetze zur Anschauung zu bringen und dadurch das Verständniss pwa_311.012
zu erleichtern, den Genuss zu erhöhen, das Urtheil zu schärfen pwa_311.013
und zu befestigen. Ist dann unter den Lesern oder Hörern Jemand, pwa_311.014
dem Gott Dichter- oder Rednergabe verliehen hat, dem werden dann pwa_311.015
freilich jene Lehren doppelt zu gute kommen, er wird auch practischen pwa_311.016
Nutzen davon haben: einen solchen wird der Poetiker, der Rhetoriker pwa_311.017
weiter ausbilden; aber Jemanden zum Dichter oder Redner machen, pwa_311.018
der es nicht schon ist, das kann weder er, noch sonst ein Mensch. pwa_311.019
So ist es denn auch mit der Stilistik. Zwar hat sie es nicht mit so pwa_311.020
innerlichen Dingen zu thun, wie die Poetik und die Rhetorik: ihr pwa_311.021
Gegenstand ist die Oberfläche der sprachlichen Darstellung, nicht pwa_311.022
die Idee, nicht der Stoff, sondern lediglich die Form, die Wahl der pwa_311.023
Worte, der Bau der Sätze. Und solche Aeusserlichkeiten, dürfte man pwa_311.024
meinen, wären wohl zu lehren, damit sie erlernt würden. Indessen pwa_311.025
der Stil ist doch keine bloss mechanische Handfertigkeit: die sprachlichen pwa_311.026
Formen, von denen die Stilistik zu handeln hat, sind in der pwa_311.027
nothwendigsten Weise durch Stoff und Idee bedingt; der Stil ist keine pwa_311.028
todte Maske, die über den Inhalt gedeckt wird, sondern er ist die pwa_311.029
lebensvolle Gebärde des Angesichts, zu welcher Fleisch und Bein sich pwa_311.030
in der Weise gestalten, wie die Seele von innen heraus wirkt; er ist pwa_311.031
freilich nur eine Einkleidung des Inhaltes, nur ein Gewand, aber der pwa_311.032
Faltenwurf des Gewandes ist hervorgebracht durch die Stellung der pwa_311.033
Glieder, die das Gewand verhüllt, und den Gliedern hat wiederum pwa_311.034
nur die Seele grade diese Bewegung und Stellung gegeben. Und so pwa_311.035
darf man denn beim Vortrage der Stilistik nichts Andres verheissen

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Wir wollen nicht wiederholen, was früher (S. 235) über die gewöhnliche pwa_311.002
unklare Vermischung von Rhetorik und Stilistik ist gesagt worden. pwa_311.003
Aber an Eine Bemerkung darf doch vielleicht wieder erinnert pwa_311.004
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besprechen anfiengen. Der Zweck einer Poetik, einer Rhetorik kann pwa_311.006
niemals der sein, den, der sie studiert oder ein Lehrbuch liest, zu einem pwa_311.007
Dichter, einem Redner zu machen. Ist das Bestreben dessen, der sie pwa_311.008
lehrt oder ein Lehrbuch schreibt, vernünftig und gewissenhaft, so geht pwa_311.009
er nur darauf aus, die Poesie und die prosaische Litteratur, wie sie pwa_311.010
vor uns liegt, auf die Gesetze hin zu betrachten, die in ihnen walten, pwa_311.011
diese Gesetze zur Anschauung zu bringen und dadurch das Verständniss pwa_311.012
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dem Gott Dichter- oder Rednergabe verliehen hat, dem werden dann pwa_311.015
freilich jene Lehren doppelt zu gute kommen, er wird auch practischen pwa_311.016
Nutzen davon haben: einen solchen wird der Poetiker, der Rhetoriker pwa_311.017
weiter ausbilden; aber Jemanden zum Dichter oder Redner machen, pwa_311.018
der es nicht schon ist, das kann weder er, noch sonst ein Mensch. pwa_311.019
So ist es denn auch mit der Stilistik. Zwar hat sie es nicht mit so pwa_311.020
innerlichen Dingen zu thun, wie die Poetik und die Rhetorik: ihr pwa_311.021
Gegenstand ist die Oberfläche der sprachlichen Darstellung, nicht pwa_311.022
die Idee, nicht der Stoff, sondern lediglich die Form, die Wahl der pwa_311.023
Worte, der Bau der Sätze. Und solche Aeusserlichkeiten, dürfte man pwa_311.024
meinen, wären wohl zu lehren, damit sie erlernt würden. Indessen pwa_311.025
der Stil ist doch keine bloss mechanische Handfertigkeit: die sprachlichen pwa_311.026
Formen, von denen die Stilistik zu handeln hat, sind in der pwa_311.027
nothwendigsten Weise durch Stoff und Idee bedingt; der Stil ist keine pwa_311.028
todte Maske, die über den Inhalt gedeckt wird, sondern er ist die pwa_311.029
lebensvolle Gebärde des Angesichts, zu welcher Fleisch und Bein sich pwa_311.030
in der Weise gestalten, wie die Seele von innen heraus wirkt; er ist pwa_311.031
freilich nur eine Einkleidung des Inhaltes, nur ein Gewand, aber der pwa_311.032
Faltenwurf des Gewandes ist hervorgebracht durch die Stellung der pwa_311.033
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. E311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/329>, abgerufen am 24.11.2024.