Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_308.001 pwa_308.034 pwa_308.038
"Ein Comödiant kann einen Pfarrer lehren." pwa_308.001 pwa_308.034 pwa_308.038
„Ein Comödiant kann einen Pfarrer lehren.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0326" n="308"/><lb n="pwa_308.001"/> Exposition bringt zuerst die verschiedenen Personen und deren Interessen <lb n="pwa_308.002"/> auf den Schauplatz, die Verwickelung zeigt diese Interessen in ihrem <lb n="pwa_308.003"/> Streit, die Auflösung aber schlägt den ganzen Kampf nieder durch <lb n="pwa_308.004"/> den Sieg und den Frieden der Idee. Dasselbe Verhältniss besteht <lb n="pwa_308.005"/> auch zwischen den drei Gliedern einer Rede, dem Exordium, der <lb n="pwa_308.006"/> disputatio und der conclusio. Auch das Exordium der Rede dient ja <lb n="pwa_308.007"/> hauptsächlich, um die Ausführung exponierend zu begründen; die Ausführung <lb n="pwa_308.008"/> selbst ist durch und durch analytisch; darauf, in der conclusio, <lb n="pwa_308.009"/> folgt die synthetische Einigung. Namentlich aber ist es der <lb n="pwa_308.010"/> zweite Theil, die Ausführung oder die disputatio, in welchem der dramatische <lb n="pwa_308.011"/> Character der Rede besonders deutlich vor Augen tritt, und es <lb n="pwa_308.012"/> ist darauf schon früher (S. 294) hingedeutet worden, als wir den Namen <lb n="pwa_308.013"/> disputatio in nähere Erwägung zogen. Auch hier haben wir einen <lb n="pwa_308.014"/> Kampf, aber nicht von Personen, sondern von Gedanken, nicht von <lb n="pwa_308.015"/> persönlichen Interessen, sondern von theoretischen Sätzen, und die <lb n="pwa_308.016"/> ganze Handlung stellt sich zwar nicht eigentlich dialogisch, aber doch <lb n="pwa_308.017"/> monologisch, monodramatisch, also immerhin in dramatischer Art dar. <lb n="pwa_308.018"/> Es spricht nur der Redner; diejenigen, deren Gedanken und Grundsätze <lb n="pwa_308.019"/> er mit den seinigen bekämpft oder berichtigt, die Gegenpartei, <lb n="pwa_308.020"/> die Zuhörer schweigen ohne dialogisch einzureden: er selber führt an <lb n="pwa_308.021"/> ihrer Stelle das Wort, und aus dem, was er sagt, ergänzen sich die <lb n="pwa_308.022"/> Fragen und die Antworten der Andern. Diess Verhältniss des Redners <lb n="pwa_308.023"/> zu seinen Zuhörern begründet namentlich auch für diesen zweiten Haupttheil <lb n="pwa_308.024"/> der Rede die Anforderung, dass Alles, was gesagt wird, in lebendiger <lb n="pwa_308.025"/> Bezüglichkeit auf die gegenwärtige Zuhörerschaft stehe: eine <lb n="pwa_308.026"/> Anforderung, die aber grade hier gewöhnlich verletzt wird; ganz häufig <lb n="pwa_308.027"/> wenden sich die Redner erst im Beschluss an ihre Zuhörerschaft, während <lb n="pwa_308.028"/> sie die vorhergehende Ausführung oder „Abhandlung“ so beziehungslos <lb n="pwa_308.029"/> gestalten, als wäre sie eben eine Abhandlung im sonstigen <lb n="pwa_308.030"/> Sinne des Wortes. Aber es ist auch schon hier die Sache des Redners, <lb n="pwa_308.031"/> seine Zuhörer unausgesetzt und lebhaft Theil nehmen zu lassen <lb n="pwa_308.032"/> und sie gleichsam fragend und antwortend in sein einseitiges Zwiegespräch <lb n="pwa_308.033"/> hineinzuziehen.</p> <p><lb n="pwa_308.034"/> Also die Rede das prosaische Gegenbild des Dramas. Wenn man <lb n="pwa_308.035"/> diese Vergleichung ins Auge fasst, bekommt ein bekannter Vers aus <lb n="pwa_308.036"/> Göthes Faust (1, 1) seinen guten Bezug und verliert den Stachel des <lb n="pwa_308.037"/> Hohns, der eigentlich allerdings in ihm liegen soll:</p> <lg> <l><lb n="pwa_308.038"/> „Ein Comödiant kann einen Pfarrer lehren.“</l> </lg> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [308/0326]
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Exposition bringt zuerst die verschiedenen Personen und deren Interessen pwa_308.002
auf den Schauplatz, die Verwickelung zeigt diese Interessen in ihrem pwa_308.003
Streit, die Auflösung aber schlägt den ganzen Kampf nieder durch pwa_308.004
den Sieg und den Frieden der Idee. Dasselbe Verhältniss besteht pwa_308.005
auch zwischen den drei Gliedern einer Rede, dem Exordium, der pwa_308.006
disputatio und der conclusio. Auch das Exordium der Rede dient ja pwa_308.007
hauptsächlich, um die Ausführung exponierend zu begründen; die Ausführung pwa_308.008
selbst ist durch und durch analytisch; darauf, in der conclusio, pwa_308.009
folgt die synthetische Einigung. Namentlich aber ist es der pwa_308.010
zweite Theil, die Ausführung oder die disputatio, in welchem der dramatische pwa_308.011
Character der Rede besonders deutlich vor Augen tritt, und es pwa_308.012
ist darauf schon früher (S. 294) hingedeutet worden, als wir den Namen pwa_308.013
disputatio in nähere Erwägung zogen. Auch hier haben wir einen pwa_308.014
Kampf, aber nicht von Personen, sondern von Gedanken, nicht von pwa_308.015
persönlichen Interessen, sondern von theoretischen Sätzen, und die pwa_308.016
ganze Handlung stellt sich zwar nicht eigentlich dialogisch, aber doch pwa_308.017
monologisch, monodramatisch, also immerhin in dramatischer Art dar. pwa_308.018
Es spricht nur der Redner; diejenigen, deren Gedanken und Grundsätze pwa_308.019
er mit den seinigen bekämpft oder berichtigt, die Gegenpartei, pwa_308.020
die Zuhörer schweigen ohne dialogisch einzureden: er selber führt an pwa_308.021
ihrer Stelle das Wort, und aus dem, was er sagt, ergänzen sich die pwa_308.022
Fragen und die Antworten der Andern. Diess Verhältniss des Redners pwa_308.023
zu seinen Zuhörern begründet namentlich auch für diesen zweiten Haupttheil pwa_308.024
der Rede die Anforderung, dass Alles, was gesagt wird, in lebendiger pwa_308.025
Bezüglichkeit auf die gegenwärtige Zuhörerschaft stehe: eine pwa_308.026
Anforderung, die aber grade hier gewöhnlich verletzt wird; ganz häufig pwa_308.027
wenden sich die Redner erst im Beschluss an ihre Zuhörerschaft, während pwa_308.028
sie die vorhergehende Ausführung oder „Abhandlung“ so beziehungslos pwa_308.029
gestalten, als wäre sie eben eine Abhandlung im sonstigen pwa_308.030
Sinne des Wortes. Aber es ist auch schon hier die Sache des Redners, pwa_308.031
seine Zuhörer unausgesetzt und lebhaft Theil nehmen zu lassen pwa_308.032
und sie gleichsam fragend und antwortend in sein einseitiges Zwiegespräch pwa_308.033
hineinzuziehen.
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Also die Rede das prosaische Gegenbild des Dramas. Wenn man pwa_308.035
diese Vergleichung ins Auge fasst, bekommt ein bekannter Vers aus pwa_308.036
Göthes Faust (1, 1) seinen guten Bezug und verliert den Stachel des pwa_308.037
Hohns, der eigentlich allerdings in ihm liegen soll:
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„Ein Comödiant kann einen Pfarrer lehren.“
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