Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_307.001 pwa_307.035 pwa_307.038 pwa_307.001 pwa_307.035 pwa_307.038 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0325" n="307"/> <p><lb n="pwa_307.001"/> Hiemit ist das Bild der Rede zu Ende geführt: wir wollen aber <lb n="pwa_307.002"/> noch auf dem Wege einer Vergleichung einige Schlussbemerkungen <lb n="pwa_307.003"/> anstellen über das Wesen der Rede im Allgemeinen, über deren Bedeutung <lb n="pwa_307.004"/> und Einrichtung; auf dem Wege einer Vergleichung, die bisher <lb n="pwa_307.005"/> schon wiederholendlich ist angedeutet worden, indem wir den Ausdruck <lb n="pwa_307.006"/> <hi rendition="#i">rednerische Handlung</hi> gebrauchten: wir wollen die Rede vergleichen <lb n="pwa_307.007"/> mit dem Drama. Eine solche Parallele ist schon dadurch <lb n="pwa_307.008"/> motiviert und gleichsam gefordert, dass Drama und Rede, jedes auf <lb n="pwa_307.009"/> seinem Gebiete, der Gipfelpunct der Darstellung durch die Sprache <lb n="pwa_307.010"/> ist, das Drama für die Poesie, die Rede für die Prosa. Sie bezeichnen <lb n="pwa_307.011"/> aber an beiden Orten den Gipfel der Vollendung deshalb, weil sich <lb n="pwa_307.012"/> in ihnen die sonst getrennten Arten der Anschauung und Darstellung <lb n="pwa_307.013"/> wieder vereinigt haben, im Drama die Epik und die Lyrik, in der <lb n="pwa_307.014"/> Rede die Erzählung, die das prosaische Gegenbild des Epos, und die <lb n="pwa_307.015"/> Belehrung, die das prosaische Gegenbild der Lyrik ist. Zwar ist die <lb n="pwa_307.016"/> Rede ihrem hauptsächlichen Inhalte nach lehrhaft, und das Didactische <lb n="pwa_307.017"/> behauptet in ihr ein grösseres Uebergewicht als die Lyrik im Drama; <lb n="pwa_307.018"/> daher wir auch die rednerische Prosa mit unter die didactische geordnet <lb n="pwa_307.019"/> haben: gleichwohl ist das Element der Erzählung von ihr nicht ausgeschlossen: <lb n="pwa_307.020"/> schon der Anfang einer jeden Rede ist erzählender Art: <lb n="pwa_307.021"/> denn jegliche Rede lehnt sich an einen historisch gegebenen, factischen <lb n="pwa_307.022"/> Anlass und geht von der Berichterstattung darüber aus. Und auch <lb n="pwa_307.023"/> im weiteren Verlaufe nimmt die Rede fort und fort einzelne erzählende <lb n="pwa_307.024"/> Bestandtheile in sich auf: so bei der Argumentation, so wieder im <lb n="pwa_307.025"/> pathetischen Theil. Auf diese Art wirken in der Rede Einbildung <lb n="pwa_307.026"/> und Verstand beinahe ebenso zusammen, wie im Drama Einbildung <lb n="pwa_307.027"/> und Gefühl. Aber auch eben das Gefühl liegt, wie sich uns zur <lb n="pwa_307.028"/> Genüge gezeigt hat, innerhalb des Bereiches der Rede; ja ihre ganze <lb n="pwa_307.029"/> und letzte Vollendung findet sie erst in einer Einwirkung auf das <lb n="pwa_307.030"/> Gefühl, insofern die Bestimmung des Willens muss vermittelt werden <lb n="pwa_307.031"/> durch Gefühlsanregung. Ebenso bildet Einwirkung auf das Gefühl <lb n="pwa_307.032"/> das letzte Ende jeder dramatischen Dichtung; jedes Drama führt die <lb n="pwa_307.033"/> religiösen und sittlichen Empfindungen durch den Widerspruch und <lb n="pwa_307.034"/> Zwiespalt hindurch zur Versöhnung und zum Frieden.</p> <p><lb n="pwa_307.035"/> Indessen der Parallelismus der Rede und des Dramas bleibt nicht <lb n="pwa_307.036"/> so bloss beim Allgemeinen stehn; er lässt sich noch weiter und besser <lb n="pwa_307.037"/> in Einzelheiten hinein verfolgen.</p> <p><lb n="pwa_307.038"/> Jedes Drama verlangt für den Verlauf seiner Handlung eine dreitheilige <lb n="pwa_307.039"/> Gliederung; es muss zerfallen in die Exposition, die Verwickelung <lb n="pwa_307.040"/> und die Auflösung. Von diesen drei Gliedern sind die beiden <lb n="pwa_307.041"/> ersten wesentlich analytischer Natur, das dritte synthetisch. Die </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [307/0325]
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Hiemit ist das Bild der Rede zu Ende geführt: wir wollen aber pwa_307.002
noch auf dem Wege einer Vergleichung einige Schlussbemerkungen pwa_307.003
anstellen über das Wesen der Rede im Allgemeinen, über deren Bedeutung pwa_307.004
und Einrichtung; auf dem Wege einer Vergleichung, die bisher pwa_307.005
schon wiederholendlich ist angedeutet worden, indem wir den Ausdruck pwa_307.006
rednerische Handlung gebrauchten: wir wollen die Rede vergleichen pwa_307.007
mit dem Drama. Eine solche Parallele ist schon dadurch pwa_307.008
motiviert und gleichsam gefordert, dass Drama und Rede, jedes auf pwa_307.009
seinem Gebiete, der Gipfelpunct der Darstellung durch die Sprache pwa_307.010
ist, das Drama für die Poesie, die Rede für die Prosa. Sie bezeichnen pwa_307.011
aber an beiden Orten den Gipfel der Vollendung deshalb, weil sich pwa_307.012
in ihnen die sonst getrennten Arten der Anschauung und Darstellung pwa_307.013
wieder vereinigt haben, im Drama die Epik und die Lyrik, in der pwa_307.014
Rede die Erzählung, die das prosaische Gegenbild des Epos, und die pwa_307.015
Belehrung, die das prosaische Gegenbild der Lyrik ist. Zwar ist die pwa_307.016
Rede ihrem hauptsächlichen Inhalte nach lehrhaft, und das Didactische pwa_307.017
behauptet in ihr ein grösseres Uebergewicht als die Lyrik im Drama; pwa_307.018
daher wir auch die rednerische Prosa mit unter die didactische geordnet pwa_307.019
haben: gleichwohl ist das Element der Erzählung von ihr nicht ausgeschlossen: pwa_307.020
schon der Anfang einer jeden Rede ist erzählender Art: pwa_307.021
denn jegliche Rede lehnt sich an einen historisch gegebenen, factischen pwa_307.022
Anlass und geht von der Berichterstattung darüber aus. Und auch pwa_307.023
im weiteren Verlaufe nimmt die Rede fort und fort einzelne erzählende pwa_307.024
Bestandtheile in sich auf: so bei der Argumentation, so wieder im pwa_307.025
pathetischen Theil. Auf diese Art wirken in der Rede Einbildung pwa_307.026
und Verstand beinahe ebenso zusammen, wie im Drama Einbildung pwa_307.027
und Gefühl. Aber auch eben das Gefühl liegt, wie sich uns zur pwa_307.028
Genüge gezeigt hat, innerhalb des Bereiches der Rede; ja ihre ganze pwa_307.029
und letzte Vollendung findet sie erst in einer Einwirkung auf das pwa_307.030
Gefühl, insofern die Bestimmung des Willens muss vermittelt werden pwa_307.031
durch Gefühlsanregung. Ebenso bildet Einwirkung auf das Gefühl pwa_307.032
das letzte Ende jeder dramatischen Dichtung; jedes Drama führt die pwa_307.033
religiösen und sittlichen Empfindungen durch den Widerspruch und pwa_307.034
Zwiespalt hindurch zur Versöhnung und zum Frieden.
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Indessen der Parallelismus der Rede und des Dramas bleibt nicht pwa_307.036
so bloss beim Allgemeinen stehn; er lässt sich noch weiter und besser pwa_307.037
in Einzelheiten hinein verfolgen.
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Jedes Drama verlangt für den Verlauf seiner Handlung eine dreitheilige pwa_307.039
Gliederung; es muss zerfallen in die Exposition, die Verwickelung pwa_307.040
und die Auflösung. Von diesen drei Gliedern sind die beiden pwa_307.041
ersten wesentlich analytischer Natur, das dritte synthetisch. Die
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