Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_297.001 pwa_297.031 pwa_297.001 pwa_297.031 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0315" n="297"/><lb n="pwa_297.001"/> so wird ihr als zweite Abtheilung noch die Beweisführung oder Argumentation <lb n="pwa_297.002"/> beigegeben. Beweise können die Ueberzeugung natürlich <lb n="pwa_297.003"/> nur auf mittelbarem Wege hervorbringen: denn zuerst muss die Beweisführung <lb n="pwa_297.004"/> für sich selbst die Zustimmung des Hörers erhalten, eh er <lb n="pwa_297.005"/> auch den für den Hauptsatz daraus hervorgehenden Schlussfolgerungen <lb n="pwa_297.006"/> beistimmen kann. Die Beweise sind bekanntlich entweder apriorische <lb n="pwa_297.007"/> oder aposteriorische, sie werden entweder bloss aus begrifflichen Abstractionen <lb n="pwa_297.008"/> heraus oder aus der Erfahrung geführt; die alten Rhetoriker <lb n="pwa_297.009"/> gebrauchen dafür mit Aristoteles die griechischen Benennungen <lb n="pwa_297.010"/> <foreign xml:lang="grc">ἐνθύμημα</foreign> und <foreign xml:lang="grc">ἐπαγωγή</foreign>, mit Cicero die lateinischen <hi rendition="#i">ratiocinatio</hi> und <lb n="pwa_297.011"/> <hi rendition="#i">inductio.</hi> Erfahrungsbeweise sind aber dem Redner jedesmal dienlicher <lb n="pwa_297.012"/> als die abstracteren Begriffsbeweise, sowohl deswegen, weil sie eher <lb n="pwa_297.013"/> jedem Zuhörer einleuchten, als auch, weil ihre Anlehnung an eine <lb n="pwa_297.014"/> gegebene Wirklichkeit ihnen mehr Anschaulichkeit und Leben giebt, <lb n="pwa_297.015"/> und es dem Redner möglich macht, seiner Darstellung die ansprechende <lb n="pwa_297.016"/> Farbe der Phantasie und einen Bezug auf das Gemüth der Zuhörer <lb n="pwa_297.017"/> zu verleihen: Vorzüge, die den nackten und kalten apriorischen Beweisen <lb n="pwa_297.018"/> eben nicht eigen sind. Es ist daher ein grosser Vortheil für den <lb n="pwa_297.019"/> weltlichen Redner, namentlich aber für den gerichtlichen, dass er <lb n="pwa_297.020"/> häufig, ja gewöhnlich schon durch seinen factischen Anlass genöthigt <lb n="pwa_297.021"/> ist, sich besonders auf Erfahrungsbeweise zu stützen. Vorher ist von <lb n="pwa_297.022"/> der Beweisführung gesagt worden, sie werde der Erklärung noch als <lb n="pwa_297.023"/> zweites Glied beigegeben: aber keineswegs folgen immer diese beiden <lb n="pwa_297.024"/> Glieder eins hinter dem andern; häufig genug werden sie in einander <lb n="pwa_297.025"/> verschränkt, die Beweisführung wird in die Erklärung verflochten, <lb n="pwa_297.026"/> ja umgekehrt die Erklärung als das minder Hervortretende in die <lb n="pwa_297.027"/> Beweisführung. Daher kommt es auch, dass manche alte Rhetoriker <lb n="pwa_297.028"/> wohl den ganzen zweiten Haupttheil, ohne auf die Möglichkeit <lb n="pwa_297.029"/> einer zweigliedrigen Einrichtung zu achten, die <hi rendition="#i">argumentatio</hi> genannt <lb n="pwa_297.030"/> haben.</p> <p><lb n="pwa_297.031"/> Welches Verfahren nun aber der Redner beobachten möge, möge <lb n="pwa_297.032"/> er die Beweisführung von der Erklärung trennen oder eine mit der <lb n="pwa_297.033"/> andern verweben, immer wird es der Rede und ihren Zwecken zum <lb n="pwa_297.034"/> Vortheile gereichen, wenn er von den schwächeren Beweisen zu immer <lb n="pwa_297.035"/> stärkeren aufsteigt und mit den allerstärksten schliesst. Diese Reihenfolge <lb n="pwa_297.036"/> wäre schon dann die beste, wenn der ganze Vortrag mit dem <lb n="pwa_297.037"/> zweiten Theile abgethan wäre: denn bei der successiven Natur jeder <lb n="pwa_297.038"/> sprachlichen Mittheilung darf man immer auf einige Vergesslichkeit <lb n="pwa_297.039"/> rechnen und darf annehmen, dass die Nachwirkung des ersten Gedankens <lb n="pwa_297.040"/> schon beinahe erloschen sei, wenn es zum letzten kommt: dieser <lb n="pwa_297.041"/> Gefahr darf man aber nicht grade den allerwichtigsten, nicht grade </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [297/0315]
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so wird ihr als zweite Abtheilung noch die Beweisführung oder Argumentation pwa_297.002
beigegeben. Beweise können die Ueberzeugung natürlich pwa_297.003
nur auf mittelbarem Wege hervorbringen: denn zuerst muss die Beweisführung pwa_297.004
für sich selbst die Zustimmung des Hörers erhalten, eh er pwa_297.005
auch den für den Hauptsatz daraus hervorgehenden Schlussfolgerungen pwa_297.006
beistimmen kann. Die Beweise sind bekanntlich entweder apriorische pwa_297.007
oder aposteriorische, sie werden entweder bloss aus begrifflichen Abstractionen pwa_297.008
heraus oder aus der Erfahrung geführt; die alten Rhetoriker pwa_297.009
gebrauchen dafür mit Aristoteles die griechischen Benennungen pwa_297.010
ἐνθύμημα und ἐπαγωγή, mit Cicero die lateinischen ratiocinatio und pwa_297.011
inductio. Erfahrungsbeweise sind aber dem Redner jedesmal dienlicher pwa_297.012
als die abstracteren Begriffsbeweise, sowohl deswegen, weil sie eher pwa_297.013
jedem Zuhörer einleuchten, als auch, weil ihre Anlehnung an eine pwa_297.014
gegebene Wirklichkeit ihnen mehr Anschaulichkeit und Leben giebt, pwa_297.015
und es dem Redner möglich macht, seiner Darstellung die ansprechende pwa_297.016
Farbe der Phantasie und einen Bezug auf das Gemüth der Zuhörer pwa_297.017
zu verleihen: Vorzüge, die den nackten und kalten apriorischen Beweisen pwa_297.018
eben nicht eigen sind. Es ist daher ein grosser Vortheil für den pwa_297.019
weltlichen Redner, namentlich aber für den gerichtlichen, dass er pwa_297.020
häufig, ja gewöhnlich schon durch seinen factischen Anlass genöthigt pwa_297.021
ist, sich besonders auf Erfahrungsbeweise zu stützen. Vorher ist von pwa_297.022
der Beweisführung gesagt worden, sie werde der Erklärung noch als pwa_297.023
zweites Glied beigegeben: aber keineswegs folgen immer diese beiden pwa_297.024
Glieder eins hinter dem andern; häufig genug werden sie in einander pwa_297.025
verschränkt, die Beweisführung wird in die Erklärung verflochten, pwa_297.026
ja umgekehrt die Erklärung als das minder Hervortretende in die pwa_297.027
Beweisführung. Daher kommt es auch, dass manche alte Rhetoriker pwa_297.028
wohl den ganzen zweiten Haupttheil, ohne auf die Möglichkeit pwa_297.029
einer zweigliedrigen Einrichtung zu achten, die argumentatio genannt pwa_297.030
haben.
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Welches Verfahren nun aber der Redner beobachten möge, möge pwa_297.032
er die Beweisführung von der Erklärung trennen oder eine mit der pwa_297.033
andern verweben, immer wird es der Rede und ihren Zwecken zum pwa_297.034
Vortheile gereichen, wenn er von den schwächeren Beweisen zu immer pwa_297.035
stärkeren aufsteigt und mit den allerstärksten schliesst. Diese Reihenfolge pwa_297.036
wäre schon dann die beste, wenn der ganze Vortrag mit dem pwa_297.037
zweiten Theile abgethan wäre: denn bei der successiven Natur jeder pwa_297.038
sprachlichen Mittheilung darf man immer auf einige Vergesslichkeit pwa_297.039
rechnen und darf annehmen, dass die Nachwirkung des ersten Gedankens pwa_297.040
schon beinahe erloschen sei, wenn es zum letzten kommt: dieser pwa_297.041
Gefahr darf man aber nicht grade den allerwichtigsten, nicht grade
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