Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_230.001 pwa_230.015 pwa_230.019 pwa_230.024 pwa_230.036 pwa_230.001 pwa_230.015 pwa_230.019 pwa_230.024 pwa_230.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0248" n="230"/><lb n="pwa_230.001"/> während Göthens Singspiele zwar componiert worden sind, aber <lb n="pwa_230.002"/> die Musik dazu längst hat in Vergessenheit gerathen können. Eine <lb n="pwa_230.003"/> Ausnahme macht Richard Wagner, der seine Operntexte selbst zu <lb n="pwa_230.004"/> verfassen pflegt. Was somit der Oper an Poesie gebricht, sucht sie <lb n="pwa_230.005"/> nun auf einer anderen Seite zu ersetzen: die Malerei, die Mechanik <lb n="pwa_230.006"/> mit all ihren Künsten werden zu Hilfe gerufen, um die Sinne zu <lb n="pwa_230.007"/> reizen, um durch allerlei Ueberraschungen den Geist gefangen zu <lb n="pwa_230.008"/> nehmen und von höheren Anforderungen abzuziehn. Wie A. W. <lb n="pwa_230.009"/> von Schlegel treffend sagt: „Die Anarchie der Künste, da Musik, <lb n="pwa_230.010"/> Tanz und Decoration sich gegenseitig zu überbieten suchen, ist das <lb n="pwa_230.011"/> eigentliche Wesen der Oper.“ Auf sie haben deshalb selbst die strengsten <lb n="pwa_230.012"/> Theoretiker die beliebte Lehre von den drei Einheiten nicht <lb n="pwa_230.013"/> anwenden mögen, wenigstens sie bei ihr niemals durchgesetzt, wenn <lb n="pwa_230.014"/> schon namentlich ernsthafte Opern dieselben gern beobachten.</p> <p><lb n="pwa_230.015"/> Jetzt sind nur noch einige andere Arten dramatischer Poesie zu <lb n="pwa_230.016"/> nennen, die sich auch, da in ihnen gleichfalls das poetische Element <lb n="pwa_230.017"/> mit dem musikalischen verschmolzen oder verbunden ist, mit unter <lb n="pwa_230.018"/> die allgemeine Art des Singspiels einordnen lassen.</p> <p><lb n="pwa_230.019"/> Zuerst das <hi rendition="#b">Vaudeville.</hi> Mit diesem Namen bezeichnet man in <lb n="pwa_230.020"/> Frankreich Dramen von geringerem Umfange und meist komischer <lb n="pwa_230.021"/> Art mit eingelegten einzelnen Arien und Chören: der Form nach sind <lb n="pwa_230.022"/> sie eine Rückkehr zu der Art der geistlichen Schauspiele des <lb n="pwa_230.023"/> Mittelalters.</p> <p><lb n="pwa_230.024"/> Sodann das <hi rendition="#b">Melodrama.</hi> So heissen Tragödien oder Schauspiele, <lb n="pwa_230.025"/> in denen zwar nicht gesungen, aber der Dialog von Instrumentalmusik <lb n="pwa_230.026"/> stellenweis begleitet und unterbrochen wird. Eine Nebenart <lb n="pwa_230.027"/> bildet das <hi rendition="#b">Monodrama,</hi> das zuerst durch J. J. Rousseaus Pygmalion <lb n="pwa_230.028"/> ist aufgebracht worden: es besteht in einem dramatisch gehaltenen <lb n="pwa_230.029"/> Monolog, der von Musik begleitet wird. In Deutschland war eine der <lb n="pwa_230.030"/> ersten und lange Zeit auch beliebtesten Nachahmungen dieser Art die <lb n="pwa_230.031"/> Ariadne auf Naxos, welche der Schauspieler Joh. Christian Brandes <lb n="pwa_230.032"/> 1774 als Glanzrolle für seine Frau verfasste. Die Grundlage dieses <lb n="pwa_230.033"/> Monodramas bildet Gerstenbergs gleichnamige Cantate; in Musik gesetzt <lb n="pwa_230.034"/> wurde es von G. Benda. Jetzt ist dieses Zwittergeschöpf der dramatischen <lb n="pwa_230.035"/> Poesie von der Oper verschlungen.</p> <p><lb n="pwa_230.036"/> Endlich die <hi rendition="#b">Cantate</hi> und deren Unterart das <hi rendition="#b">Oratorium.</hi> In <lb n="pwa_230.037"/> der Cantate zeigt sich das Lyrische des Singspiels auf die höchste <lb n="pwa_230.038"/> Höhe gesteigert und das Epische gänzlich untergeordnet, nur verloren <lb n="pwa_230.039"/> in leichte Umrisse, wie denn auch die Handlung überall nicht theatralisch <lb n="pwa_230.040"/> dargestellt, sondern nur vorausgesetzt und es dem Hörer überlassen <lb n="pwa_230.041"/> wird, sich dieselbe hinzuzudenken. Deshalb hat die Cantate </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [230/0248]
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während Göthens Singspiele zwar componiert worden sind, aber pwa_230.002
die Musik dazu längst hat in Vergessenheit gerathen können. Eine pwa_230.003
Ausnahme macht Richard Wagner, der seine Operntexte selbst zu pwa_230.004
verfassen pflegt. Was somit der Oper an Poesie gebricht, sucht sie pwa_230.005
nun auf einer anderen Seite zu ersetzen: die Malerei, die Mechanik pwa_230.006
mit all ihren Künsten werden zu Hilfe gerufen, um die Sinne zu pwa_230.007
reizen, um durch allerlei Ueberraschungen den Geist gefangen zu pwa_230.008
nehmen und von höheren Anforderungen abzuziehn. Wie A. W. pwa_230.009
von Schlegel treffend sagt: „Die Anarchie der Künste, da Musik, pwa_230.010
Tanz und Decoration sich gegenseitig zu überbieten suchen, ist das pwa_230.011
eigentliche Wesen der Oper.“ Auf sie haben deshalb selbst die strengsten pwa_230.012
Theoretiker die beliebte Lehre von den drei Einheiten nicht pwa_230.013
anwenden mögen, wenigstens sie bei ihr niemals durchgesetzt, wenn pwa_230.014
schon namentlich ernsthafte Opern dieselben gern beobachten.
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Jetzt sind nur noch einige andere Arten dramatischer Poesie zu pwa_230.016
nennen, die sich auch, da in ihnen gleichfalls das poetische Element pwa_230.017
mit dem musikalischen verschmolzen oder verbunden ist, mit unter pwa_230.018
die allgemeine Art des Singspiels einordnen lassen.
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Zuerst das Vaudeville. Mit diesem Namen bezeichnet man in pwa_230.020
Frankreich Dramen von geringerem Umfange und meist komischer pwa_230.021
Art mit eingelegten einzelnen Arien und Chören: der Form nach sind pwa_230.022
sie eine Rückkehr zu der Art der geistlichen Schauspiele des pwa_230.023
Mittelalters.
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Sodann das Melodrama. So heissen Tragödien oder Schauspiele, pwa_230.025
in denen zwar nicht gesungen, aber der Dialog von Instrumentalmusik pwa_230.026
stellenweis begleitet und unterbrochen wird. Eine Nebenart pwa_230.027
bildet das Monodrama, das zuerst durch J. J. Rousseaus Pygmalion pwa_230.028
ist aufgebracht worden: es besteht in einem dramatisch gehaltenen pwa_230.029
Monolog, der von Musik begleitet wird. In Deutschland war eine der pwa_230.030
ersten und lange Zeit auch beliebtesten Nachahmungen dieser Art die pwa_230.031
Ariadne auf Naxos, welche der Schauspieler Joh. Christian Brandes pwa_230.032
1774 als Glanzrolle für seine Frau verfasste. Die Grundlage dieses pwa_230.033
Monodramas bildet Gerstenbergs gleichnamige Cantate; in Musik gesetzt pwa_230.034
wurde es von G. Benda. Jetzt ist dieses Zwittergeschöpf der dramatischen pwa_230.035
Poesie von der Oper verschlungen.
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Endlich die Cantate und deren Unterart das Oratorium. In pwa_230.037
der Cantate zeigt sich das Lyrische des Singspiels auf die höchste pwa_230.038
Höhe gesteigert und das Epische gänzlich untergeordnet, nur verloren pwa_230.039
in leichte Umrisse, wie denn auch die Handlung überall nicht theatralisch pwa_230.040
dargestellt, sondern nur vorausgesetzt und es dem Hörer überlassen pwa_230.041
wird, sich dieselbe hinzuzudenken. Deshalb hat die Cantate
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