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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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der Bahn des Rechten entfernt, oder die mehr leidet, als sie scheint pwa_208.002
verschuldet zu haben, und ebenso die Furcht, dass wir selber uns so pwa_208.003
verirren, dass wir selber eben solche Leiden über uns herabziehen pwa_208.004
könnten: beide Affecte beruhen ja in jener wehmüthigen Ueberzeugung pwa_208.005
von unserer und aller Menschen Gebrechlichkeit; nur dass im Mitleiden pwa_208.006
die Wehmuth eine objective, in der Furcht eine reflexiv subjective pwa_208.007
Richtung annimmt; dass wir im Mitleiden die Gebrechlichkeit und pwa_208.008
Unzulänglichkeit bloss an andern wahrnehmen, in der Furcht dagegen pwa_208.009
in Bezug auf uns selbst, in uns und für uns. Sodann, sagt Aristoteles, pwa_208.010
sollen durch Furcht und Mitleid eben diese und dergleichen Affecte pwa_208.011
"gereinigt werden." Und auch wir haben eine solche Reinigung als pwa_208.012
Zweck und Wesen der tragischen Production kennen gelernt, indem pwa_208.013
wir sahen, dass mit der Wehmuth immer eine tröstliche Empfindung pwa_208.014
verbunden, dass es in der Tragödie nicht bloss darauf abgesehen sei, pwa_208.015
einen Widerspruch zwischen Gemüth und Wirklichkeit zu erregen, pwa_208.016
sondern auch eben diesen Widerspruch befriedigend zu versöhnen; pwa_208.017
dass also die Tragödie im Zuschauer die Empfindung der Wehmuth pwa_208.018
über die irdische Unzulänglichkeit erweckt und doch zugleich dieselbe pwa_208.019
läutert, indem sie über der vereinzelten Erscheinung die allgemeine pwa_208.020
höhere Weltordnung zeigt, in der Alles aufgeht; indem sie dem Widerspruche pwa_208.021
durch die künstlerische Auffassung der historischen Wirklichkeit pwa_208.022
den Frieden und die Beruhigung giebt. Mithin ist es das Gleiche, pwa_208.023
ob man sagt, durch Mitleid und Furcht läutere die Tragödie dergleichen pwa_208.024
Gemüthsregungen, oder ob man es so ausdrückt, dass sie den pwa_208.025
Widerspruch der Wehmuth anrege, um ihn zu versöhnen. Nur hat pwa_208.026
die Aristotelische Definition zugleich etwas zu Beschränkendes und pwa_208.027
etwas Schrankenloses, indem sie auf der einen Seite zwei vereinzelte pwa_208.028
Affecte bestimmt hervorhebt und auf der andern noch alle übrigen pwa_208.029
dergleichen unbestimmt dazu rechnet.

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Aus dem bisher Abgehandelten ergiebt sich von selbst ein allgemein pwa_208.031
gültiges Gesetz über die Beschaffenheit der tragischen Charactere. pwa_208.032
Die Tragödie darf unter den Hauptpersonen niemals einen vollkommen pwa_208.033
guten, niemals einen vollkommen schlechten Character aufstellen; pwa_208.034
sie darf weder die vollendete Tugend noch das vollendete Laster pwa_208.035
leidend und der göttlichen Lenkung unterliegend zeigen. Denn was pwa_208.036
das erstere betrifft, das Untragische leidender Tugend, so soll ja die pwa_208.037
Tragödie nicht bloss bewähren, dass dem Göttlichen gegenüber alles pwa_208.038
Menschliche unhaltbar sei, sondern auch, dass es so sein müsse: sie pwa_208.039
darf also die Gebrechen nicht verschweigen, die der nothwendige pwa_208.040
Grund des Unterganges sind. Führte sie eine Strafe vor ohne Schuld, pwa_208.041
so würde sie einmal der Geschichte widersprechen, die dergleichen

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der Bahn des Rechten entfernt, oder die mehr leidet, als sie scheint pwa_208.002
verschuldet zu haben, und ebenso die Furcht, dass wir selber uns so pwa_208.003
verirren, dass wir selber eben solche Leiden über uns herabziehen pwa_208.004
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von unserer und aller Menschen Gebrechlichkeit; nur dass im Mitleiden pwa_208.006
die Wehmuth eine objective, in der Furcht eine reflexiv subjective pwa_208.007
Richtung annimmt; dass wir im Mitleiden die Gebrechlichkeit und pwa_208.008
Unzulänglichkeit bloss an andern wahrnehmen, in der Furcht dagegen pwa_208.009
in Bezug auf uns selbst, in uns und für uns. Sodann, sagt Aristoteles, pwa_208.010
sollen durch Furcht und Mitleid eben diese und dergleichen Affecte pwa_208.011
„gereinigt werden.“ Und auch wir haben eine solche Reinigung als pwa_208.012
Zweck und Wesen der tragischen Production kennen gelernt, indem pwa_208.013
wir sahen, dass mit der Wehmuth immer eine tröstliche Empfindung pwa_208.014
verbunden, dass es in der Tragödie nicht bloss darauf abgesehen sei, pwa_208.015
einen Widerspruch zwischen Gemüth und Wirklichkeit zu erregen, pwa_208.016
sondern auch eben diesen Widerspruch befriedigend zu versöhnen; pwa_208.017
dass also die Tragödie im Zuschauer die Empfindung der Wehmuth pwa_208.018
über die irdische Unzulänglichkeit erweckt und doch zugleich dieselbe pwa_208.019
läutert, indem sie über der vereinzelten Erscheinung die allgemeine pwa_208.020
höhere Weltordnung zeigt, in der Alles aufgeht; indem sie dem Widerspruche pwa_208.021
durch die künstlerische Auffassung der historischen Wirklichkeit pwa_208.022
den Frieden und die Beruhigung giebt. Mithin ist es das Gleiche, pwa_208.023
ob man sagt, durch Mitleid und Furcht läutere die Tragödie dergleichen pwa_208.024
Gemüthsregungen, oder ob man es so ausdrückt, dass sie den pwa_208.025
Widerspruch der Wehmuth anrege, um ihn zu versöhnen. Nur hat pwa_208.026
die Aristotelische Definition zugleich etwas zu Beschränkendes und pwa_208.027
etwas Schrankenloses, indem sie auf der einen Seite zwei vereinzelte pwa_208.028
Affecte bestimmt hervorhebt und auf der andern noch alle übrigen pwa_208.029
dergleichen unbestimmt dazu rechnet.

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Aus dem bisher Abgehandelten ergiebt sich von selbst ein allgemein pwa_208.031
gültiges Gesetz über die Beschaffenheit der tragischen Charactere. pwa_208.032
Die Tragödie darf unter den Hauptpersonen niemals einen vollkommen pwa_208.033
guten, niemals einen vollkommen schlechten Character aufstellen; pwa_208.034
sie darf weder die vollendete Tugend noch das vollendete Laster pwa_208.035
leidend und der göttlichen Lenkung unterliegend zeigen. Denn was pwa_208.036
das erstere betrifft, das Untragische leidender Tugend, so soll ja die pwa_208.037
Tragödie nicht bloss bewähren, dass dem Göttlichen gegenüber alles pwa_208.038
Menschliche unhaltbar sei, sondern auch, dass es so sein müsse: sie pwa_208.039
darf also die Gebrechen nicht verschweigen, die der nothwendige pwa_208.040
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[208/0226] pwa_208.001 der Bahn des Rechten entfernt, oder die mehr leidet, als sie scheint pwa_208.002 verschuldet zu haben, und ebenso die Furcht, dass wir selber uns so pwa_208.003 verirren, dass wir selber eben solche Leiden über uns herabziehen pwa_208.004 könnten: beide Affecte beruhen ja in jener wehmüthigen Ueberzeugung pwa_208.005 von unserer und aller Menschen Gebrechlichkeit; nur dass im Mitleiden pwa_208.006 die Wehmuth eine objective, in der Furcht eine reflexiv subjective pwa_208.007 Richtung annimmt; dass wir im Mitleiden die Gebrechlichkeit und pwa_208.008 Unzulänglichkeit bloss an andern wahrnehmen, in der Furcht dagegen pwa_208.009 in Bezug auf uns selbst, in uns und für uns. Sodann, sagt Aristoteles, pwa_208.010 sollen durch Furcht und Mitleid eben diese und dergleichen Affecte pwa_208.011 „gereinigt werden.“ Und auch wir haben eine solche Reinigung als pwa_208.012 Zweck und Wesen der tragischen Production kennen gelernt, indem pwa_208.013 wir sahen, dass mit der Wehmuth immer eine tröstliche Empfindung pwa_208.014 verbunden, dass es in der Tragödie nicht bloss darauf abgesehen sei, pwa_208.015 einen Widerspruch zwischen Gemüth und Wirklichkeit zu erregen, pwa_208.016 sondern auch eben diesen Widerspruch befriedigend zu versöhnen; pwa_208.017 dass also die Tragödie im Zuschauer die Empfindung der Wehmuth pwa_208.018 über die irdische Unzulänglichkeit erweckt und doch zugleich dieselbe pwa_208.019 läutert, indem sie über der vereinzelten Erscheinung die allgemeine pwa_208.020 höhere Weltordnung zeigt, in der Alles aufgeht; indem sie dem Widerspruche pwa_208.021 durch die künstlerische Auffassung der historischen Wirklichkeit pwa_208.022 den Frieden und die Beruhigung giebt. Mithin ist es das Gleiche, pwa_208.023 ob man sagt, durch Mitleid und Furcht läutere die Tragödie dergleichen pwa_208.024 Gemüthsregungen, oder ob man es so ausdrückt, dass sie den pwa_208.025 Widerspruch der Wehmuth anrege, um ihn zu versöhnen. Nur hat pwa_208.026 die Aristotelische Definition zugleich etwas zu Beschränkendes und pwa_208.027 etwas Schrankenloses, indem sie auf der einen Seite zwei vereinzelte pwa_208.028 Affecte bestimmt hervorhebt und auf der andern noch alle übrigen pwa_208.029 dergleichen unbestimmt dazu rechnet. pwa_208.030 Aus dem bisher Abgehandelten ergiebt sich von selbst ein allgemein pwa_208.031 gültiges Gesetz über die Beschaffenheit der tragischen Charactere. pwa_208.032 Die Tragödie darf unter den Hauptpersonen niemals einen vollkommen pwa_208.033 guten, niemals einen vollkommen schlechten Character aufstellen; pwa_208.034 sie darf weder die vollendete Tugend noch das vollendete Laster pwa_208.035 leidend und der göttlichen Lenkung unterliegend zeigen. Denn was pwa_208.036 das erstere betrifft, das Untragische leidender Tugend, so soll ja die pwa_208.037 Tragödie nicht bloss bewähren, dass dem Göttlichen gegenüber alles pwa_208.038 Menschliche unhaltbar sei, sondern auch, dass es so sein müsse: sie pwa_208.039 darf also die Gebrechen nicht verschweigen, die der nothwendige pwa_208.040 Grund des Unterganges sind. Führte sie eine Strafe vor ohne Schuld, pwa_208.041 so würde sie einmal der Geschichte widersprechen, die dergleichen

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/226>, abgerufen am 24.11.2024.