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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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EINLEITUNG.

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Die drei hauptsächlichen Eigenschaften, die der Glaube und die pwa_001.003
Glaubenslehre in dem Wesen Gottes unterscheidet, seine Allgüte, Allweisheit, pwa_001.004
Allmacht, spiegeln sich auch in seinem ersten und liebsten pwa_001.005
Geschöpfe wieder, in dem Menschen, der nach Genes. 1, 27 zum Bilde pwa_001.006
Gottes geschaffen ist; aber sie sind verwischt und verdunkelt unter pwa_001.007
dem Staube der Sündlichkeit, weshalb schon Paulus sagt: "Wir haben pwa_001.008
aber solchen Schatz in irdischen Gefässen, auf dass die überschwängliche pwa_001.009
Kraft sei Gottes, und nicht von uns" 2. Cor. 4, 7. Nicht die pwa_001.010
Fülle jener Eigenschaften, ja nicht einmal einen Theil derselben besitzt pwa_001.011
er: nur ein sehnsüchtiges Streben danach ist ihm geblieben und die pwa_001.012
Pflicht in diesem Streben so rein und eifrig zu sein, als es in den pwa_001.013
Schranken des sinnlichen und vergänglichen Leibes möglich ist. Gott pwa_001.014
ist allgütig: der Mensch ringt danach oder soll danach ringen, das pwa_001.015
Gute zu thun und das Böse zu lassen; er hat die Sittlichkeit. Gott pwa_001.016
ist allweise: der Mensch strebt nach Erkenntniss dessen, was in ihm pwa_001.017
und um ihn und über ihm ist, nach beständiger Erhöhung und Erweiterung pwa_001.018
dieser Erkenntniss; er hat den Wissenstrieb. Gott ist allmächtig: pwa_001.019
der Mensch sucht der Allmacht Gottes nachzuschaffen, nach pwa_001.020
seinem Vermögen und mit seinen Mitteln vollkommene Schöpfungen pwa_001.021
hinzustellen; er hat den Kunsttrieb. Gottes ist die volle Güte: des pwa_001.022
Menschen nur der Trieb der Sitte; Gottes die Weisheit: des Menschen pwa_001.023
nur die Wissenschaft; Gottes die Macht: des Menschen nur die Kunst. pwa_001.024
Oder mit andern Worten, die Fülle und der Glanz des göttlichen pwa_001.025
Reichthums scheint aus der verlangenden Seele der Menschheit zurück pwa_001.026
als das Streben nach dem Guten, dem Wahren, dem Schönen, und pwa_001.027
das zugleich nach all diesen drei Seiten hin gerichtete Streben ist pwa_001.028
es, zu welchem der Apostel Paulus die Gläubigen ermahnt, Philipp. pwa_001.029
4, 8: "Weiter, lieben Brüder, was wahrhaftig ist, was ehrbar, was pwa_001.030
keusch, was lieblich, was wohl lautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa pwa_001.031
ein Lob, dem denket nach." Denn führt man die gehäufte Fülle pwa_001.032
dieser Worte auf einen einfacheren Ausdruck zurück, so ergeben sich pwa_001.033
die drei Begriffe des Wahren, des Guten, des Schönen. Es soll und

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EINLEITUNG.

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Die drei hauptsächlichen Eigenschaften, die der Glaube und die pwa_001.003
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der Mensch sucht der Allmacht Gottes nachzuschaffen, nach pwa_001.020
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keusch, was lieblich, was wohl lautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa pwa_001.031
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. E1. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/19>, abgerufen am 20.04.2024.