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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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können sich nur ganz einfache, ganz abgerissene Empfindungen pwa_171.002
in solcher Kürze vortragen lassen. Den Fortschritt von solchen einstrophigen pwa_171.003
Gedichten zu mehrstrophigen könnte man dann etwa dem pwa_171.004
Fortschritte vom kurzen Heldenliede zur ausgeführten Rhapsodie vergleichen: pwa_171.005
denn eigentlich eine neue Idee kann die zweite und die pwa_171.006
dritte Strophe zu der ersten nicht bringen; die Einheit muss bleiben, pwa_171.007
die Eine Idee wird nur anschaulicher, weil sie in einer grösseren Mannigfaltigkeit pwa_171.008
von psychologischen Motiven und Consequenzen erscheint.

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3. DIE DRAMATISCHE POESIE.

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Nach einem Gesetze organischer Entwickelung, das sich häufig pwa_171.011
in geistigen Dingen wie in Dingen der Natur wirksam zeigt, kehrte pwa_171.012
die Lyrik, als sie bis zur höchsten Ausbildung, d. h. bis zum höchsten pwa_171.013
Grade ihrer Verschiedenheit von der Epik gediehen war, in diesen pwa_171.014
ihren Gegensatz, dem sie aber zugleich ihren Ursprung verdankte, pwa_171.015
zurück, und es entstand aus der Verschmelzung des Wesens beider pwa_171.016
das Drama; damit war denn auch der Kreis der möglichen Dichtungsarten pwa_171.017
geschlossen.

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Der gleiche Gang lässt sich innerhalb der bildenden Kunst wahrnehmen. pwa_171.019
Aus der Architectur, die ebenso der Ursprung und auch der pwa_171.020
Inbegriff aller bildenden Kunst ist, wie die Epik Ursprung und Inbegriff pwa_171.021
aller Dichtkunst, entwickelte sich durch Entzweiung ihr Gegensatz, die pwa_171.022
Plastik; auf die Entzweiung folgte aber auch hier die Aufhebung des pwa_171.023
Gegensatzes, die neue Vereinigung der Getrennten in der Malerei, welche pwa_171.024
von der Architectur die geistige, idealische, von der Plastik die körperliche, pwa_171.025
sinnliche Schönheit hat, welche die Figuren der Plastik nach der pwa_171.026
Symmetrie und in der Perspective der Architectur geordnet vorführt.

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Der Parallelismus aber zwischen der dichtenden und der bildenden pwa_171.028
Kunst ist erst auf dieser letzten Stufe ein Parallelismus der Uebereinstimmung. pwa_171.029
Denn vorher hatten diese beiderlei Aeusserungen des pwa_171.030
menschlichen Schöpfungstriebes einander immer das entschiedenste pwa_171.031
polarische Widerspiel gehalten. Neben der Epik, als der ältesten pwa_171.032
dichtenden Kunst, stand als älteste bildende die Architectur, d. h. pwa_171.033
neben einer sinnlichen eine rein geistige. Denn die Epik holt ihre pwa_171.034
Anschauungen aus der geschichtlichen Wirklichkeit: die Architectur pwa_171.035
verdankt der Wirklichkeit nichts, sie trägt ihre Muster und Masse in pwa_171.036
sich selbst; es giebt (um es so auszudrücken) keine so abstracte Schönheit pwa_171.037
als die architectonische ist. Auch bei dem ersten Fortschritt ihrer pwa_171.038
Weiterbildung verharren Poesie und bildende Kunst immer noch in pwa_171.039
einem solchen Gegensatze. Von der idealischen Architectur löst sich

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können sich nur ganz einfache, ganz abgerissene Empfindungen pwa_171.002
in solcher Kürze vortragen lassen. Den Fortschritt von solchen einstrophigen pwa_171.003
Gedichten zu mehrstrophigen könnte man dann etwa dem pwa_171.004
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die Eine Idee wird nur anschaulicher, weil sie in einer grösseren Mannigfaltigkeit pwa_171.008
von psychologischen Motiven und Consequenzen erscheint.

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3. DIE DRAMATISCHE POESIE.

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Nach einem Gesetze organischer Entwickelung, das sich häufig pwa_171.011
in geistigen Dingen wie in Dingen der Natur wirksam zeigt, kehrte pwa_171.012
die Lyrik, als sie bis zur höchsten Ausbildung, d. h. bis zum höchsten pwa_171.013
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zurück, und es entstand aus der Verschmelzung des Wesens beider pwa_171.016
das Drama; damit war denn auch der Kreis der möglichen Dichtungsarten pwa_171.017
geschlossen.

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Der gleiche Gang lässt sich innerhalb der bildenden Kunst wahrnehmen. pwa_171.019
Aus der Architectur, die ebenso der Ursprung und auch der pwa_171.020
Inbegriff aller bildenden Kunst ist, wie die Epik Ursprung und Inbegriff pwa_171.021
aller Dichtkunst, entwickelte sich durch Entzweiung ihr Gegensatz, die pwa_171.022
Plastik; auf die Entzweiung folgte aber auch hier die Aufhebung des pwa_171.023
Gegensatzes, die neue Vereinigung der Getrennten in der Malerei, welche pwa_171.024
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sinnliche Schönheit hat, welche die Figuren der Plastik nach der pwa_171.026
Symmetrie und in der Perspective der Architectur geordnet vorführt.

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Der Parallelismus aber zwischen der dichtenden und der bildenden pwa_171.028
Kunst ist erst auf dieser letzten Stufe ein Parallelismus der Uebereinstimmung. pwa_171.029
Denn vorher hatten diese beiderlei Aeusserungen des pwa_171.030
menschlichen Schöpfungstriebes einander immer das entschiedenste pwa_171.031
polarische Widerspiel gehalten. Neben der Epik, als der ältesten pwa_171.032
dichtenden Kunst, stand als älteste bildende die Architectur, d. h. pwa_171.033
neben einer sinnlichen eine rein geistige. Denn die Epik holt ihre pwa_171.034
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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/189>, abgerufen am 24.11.2024.