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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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bei den Hymnen und Dithyramben; diese waren ursprünglich lyrischepisch pwa_170.002
und in Hexametern verfasst, zuletzt aber wurden sie rein lyrisch, pwa_170.003
dienten zum Ausdruck feierlichen Schwunges und rauschender Begeisterung pwa_170.004
und zeigten demgemäss einen freien, ungestümen Wechsel verschiedener pwa_170.005
Versarten; oder aber, und das ist die eigentlichste Weise pwa_170.006
der äolischen Lyrik, es kehren nur noch gleiche Strophen in gleicher pwa_170.007
Melodie wieder: daher wird sie denn auch im Gegensatz zur elegischen pwa_170.008
und chorischen die melische Lyrik genannt, von melos, was eigentlich pwa_170.009
Strophe bedeutet, nicht Lied.

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Bei uns im deutschen Mittelalter wird der Uebergang aus den pwa_170.011
epischen Zwischengattungen in die lyrische Lyrik zwar durch keine pwa_170.012
so auffallenden Veränderungen in der Form bezeichnet: nur das schon pwa_170.013
früher angebahnte Gesetz der Dreitheiligkeit ward nun erst zur rechten pwa_170.014
Kunstmässigkeit und Unverbrüchlichkeit ausgebildet. Wir nennen pwa_170.015
jetzt ein solches in Strophen abgefasstes lyrisches Gedicht Lied. In pwa_170.016
der älteren Sprache bezeichnete der Singular daß liet (eine Nebenform pwa_170.017
von lit, d. h. Glied) eine einzelne Strophe, der Plural dagegen diu pwa_170.018
liet
ein aus Strophen bestehendes Lied, grade wie sich auch im Griechischen pwa_170.019
to melos und ta mele unterscheiden. Der Grund, bloss der pwa_170.020
einzelnen Strophe den Namen zu geben, ist der, dass ein lyrisches pwa_170.021
Gedicht nicht nothwendig aus mehr als einer Strophe zu bestehen pwa_170.022
braucht: wie Göthe, wie Uhland genug einstrophige Lieder haben, so pwa_170.023
auch das Mittelalter, das griechische Alterthum, und es ist keine pwa_170.024
Nöthigung vorhanden, so wie man häufig zu thun pflegt, solche vereinzelte pwa_170.025
Strophen immer nur für Bruchstücke grösserer mehrstrophiger pwa_170.026
Lieder zu halten. Ja die älteste lyrische Lyrik möchte in Griechenland pwa_170.027
und in Deutschland, wie man wohl aus der Beschaffenheit der pwa_170.028
erhaltenen Ueberreste schliessen darf, sich öfter mit einer Strophe pwa_170.029
begnügt, als das Gedicht zu einer grösseren Strophenreihe ausgesponnen pwa_170.030
haben. So sind die Scolien der Griechen, Lieder, die in heiterer pwa_170.031
Gesellschaft über Tisch gesungen wurden, beinahe sämmtlich einstrophig. pwa_170.032
Die neue Kunst hatte eben auch erst ihre Studien zu pwa_170.033
machen, musste sich auch erst am Kleinen versuchen, eh sie Muth und pwa_170.034
Kraft zu Grösserem gewinnen konnte. Jean Paul in der zweiten Ausgabe pwa_170.035
zur Vorschule der Aesthetik (S. 589 fgg.) hat nicht übel Lust, auch pwa_170.036
die Ausrufungszeichen und die Fragezeichen als besondere Art lyrischer pwa_170.037
Poesie aufzuführen; mit dieser und einigen andern dergleichen Scherzreden pwa_170.038
fertigt er da die ganze, gesammte lyrische Poesie ab, nachdem pwa_170.039
er in der ersten Ausgabe aus leicht erklärlicher und verzeihlicher Verlegenheit pwa_170.040
gänzlich von ihr geschwiegen. Solche einstrophige Dichtungen pwa_170.041
kommen den Ausrufungs- und Fragezeichen oft nahe genug: denn natürlich

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bei den Hymnen und Dithyramben; diese waren ursprünglich lyrischepisch pwa_170.002
und in Hexametern verfasst, zuletzt aber wurden sie rein lyrisch, pwa_170.003
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Versarten; oder aber, und das ist die eigentlichste Weise pwa_170.006
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Melodie wieder: daher wird sie denn auch im Gegensatz zur elegischen pwa_170.008
und chorischen die melische Lyrik genannt, von μέλος, was eigentlich pwa_170.009
Strophe bedeutet, nicht Lied.

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Bei uns im deutschen Mittelalter wird der Uebergang aus den pwa_170.011
epischen Zwischengattungen in die lyrische Lyrik zwar durch keine pwa_170.012
so auffallenden Veränderungen in der Form bezeichnet: nur das schon pwa_170.013
früher angebahnte Gesetz der Dreitheiligkeit ward nun erst zur rechten pwa_170.014
Kunstmässigkeit und Unverbrüchlichkeit ausgebildet. Wir nennen pwa_170.015
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ein aus Strophen bestehendes Lied, grade wie sich auch im Griechischen pwa_170.019
τὸ μέλος und τὰ μέλη unterscheiden. Der Grund, bloss der pwa_170.020
einzelnen Strophe den Namen zu geben, ist der, dass ein lyrisches pwa_170.021
Gedicht nicht nothwendig aus mehr als einer Strophe zu bestehen pwa_170.022
braucht: wie Göthe, wie Uhland genug einstrophige Lieder haben, so pwa_170.023
auch das Mittelalter, das griechische Alterthum, und es ist keine pwa_170.024
Nöthigung vorhanden, so wie man häufig zu thun pflegt, solche vereinzelte pwa_170.025
Strophen immer nur für Bruchstücke grösserer mehrstrophiger pwa_170.026
Lieder zu halten. Ja die älteste lyrische Lyrik möchte in Griechenland pwa_170.027
und in Deutschland, wie man wohl aus der Beschaffenheit der pwa_170.028
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Gesellschaft über Tisch gesungen wurden, beinahe sämmtlich einstrophig. pwa_170.032
Die neue Kunst hatte eben auch erst ihre Studien zu pwa_170.033
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[170/0188] pwa_170.001 bei den Hymnen und Dithyramben; diese waren ursprünglich lyrischepisch pwa_170.002 und in Hexametern verfasst, zuletzt aber wurden sie rein lyrisch, pwa_170.003 dienten zum Ausdruck feierlichen Schwunges und rauschender Begeisterung pwa_170.004 und zeigten demgemäss einen freien, ungestümen Wechsel verschiedener pwa_170.005 Versarten; oder aber, und das ist die eigentlichste Weise pwa_170.006 der äolischen Lyrik, es kehren nur noch gleiche Strophen in gleicher pwa_170.007 Melodie wieder: daher wird sie denn auch im Gegensatz zur elegischen pwa_170.008 und chorischen die melische Lyrik genannt, von μέλος, was eigentlich pwa_170.009 Strophe bedeutet, nicht Lied. pwa_170.010 Bei uns im deutschen Mittelalter wird der Uebergang aus den pwa_170.011 epischen Zwischengattungen in die lyrische Lyrik zwar durch keine pwa_170.012 so auffallenden Veränderungen in der Form bezeichnet: nur das schon pwa_170.013 früher angebahnte Gesetz der Dreitheiligkeit ward nun erst zur rechten pwa_170.014 Kunstmässigkeit und Unverbrüchlichkeit ausgebildet. Wir nennen pwa_170.015 jetzt ein solches in Strophen abgefasstes lyrisches Gedicht Lied. In pwa_170.016 der älteren Sprache bezeichnete der Singular daʒ liet (eine Nebenform pwa_170.017 von lit, d. h. Glied) eine einzelne Strophe, der Plural dagegen diu pwa_170.018 liet ein aus Strophen bestehendes Lied, grade wie sich auch im Griechischen pwa_170.019 τὸ μέλος und τὰ μέλη unterscheiden. Der Grund, bloss der pwa_170.020 einzelnen Strophe den Namen zu geben, ist der, dass ein lyrisches pwa_170.021 Gedicht nicht nothwendig aus mehr als einer Strophe zu bestehen pwa_170.022 braucht: wie Göthe, wie Uhland genug einstrophige Lieder haben, so pwa_170.023 auch das Mittelalter, das griechische Alterthum, und es ist keine pwa_170.024 Nöthigung vorhanden, so wie man häufig zu thun pflegt, solche vereinzelte pwa_170.025 Strophen immer nur für Bruchstücke grösserer mehrstrophiger pwa_170.026 Lieder zu halten. Ja die älteste lyrische Lyrik möchte in Griechenland pwa_170.027 und in Deutschland, wie man wohl aus der Beschaffenheit der pwa_170.028 erhaltenen Ueberreste schliessen darf, sich öfter mit einer Strophe pwa_170.029 begnügt, als das Gedicht zu einer grösseren Strophenreihe ausgesponnen pwa_170.030 haben. So sind die Scolien der Griechen, Lieder, die in heiterer pwa_170.031 Gesellschaft über Tisch gesungen wurden, beinahe sämmtlich einstrophig. pwa_170.032 Die neue Kunst hatte eben auch erst ihre Studien zu pwa_170.033 machen, musste sich auch erst am Kleinen versuchen, eh sie Muth und pwa_170.034 Kraft zu Grösserem gewinnen konnte. Jean Paul in der zweiten Ausgabe pwa_170.035 zur Vorschule der Aesthetik (S. 589 fgg.) hat nicht übel Lust, auch pwa_170.036 die Ausrufungszeichen und die Fragezeichen als besondere Art lyrischer pwa_170.037 Poesie aufzuführen; mit dieser und einigen andern dergleichen Scherzreden pwa_170.038 fertigt er da die ganze, gesammte lyrische Poesie ab, nachdem pwa_170.039 er in der ersten Ausgabe aus leicht erklärlicher und verzeihlicher Verlegenheit pwa_170.040 gänzlich von ihr geschwiegen. Solche einstrophige Dichtungen pwa_170.041 kommen den Ausrufungs- und Fragezeichen oft nahe genug: denn natürlich

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/188>, abgerufen am 24.11.2024.