Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873pwa_156.001 pwa_156.007 pwa_156.016 pwa_156.022 pwa_156.035 pwa_156.039 pwa_156.001 pwa_156.007 pwa_156.016 pwa_156.022 pwa_156.035 pwa_156.039 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0174" n="156"/><lb n="pwa_156.001"/> muss man doch zuerst und vor allen Dingen bei jedem Gedichte. Bei <lb n="pwa_156.002"/> Matthisson kommt gewöhnlich dazu noch ein anderer, noch schlimmerer <lb n="pwa_156.003"/> Fehler: es mangelt seinen meisten Gedichten auch noch die höhere <lb n="pwa_156.004"/> Einheit der leitenden und belebenden Idee, einer Idee, um derentwillen <lb n="pwa_156.005"/> und aus der heraus all diese Einzelheiten registriert würden. <lb n="pwa_156.006"/> Eine kleine Probe dieser Landschaftspoesie findet sich LB. 2, 1206 fgg.</p> <p><lb n="pwa_156.007"/> Bei einem Dichter aber der neuesten Zeit sehen wir diese Unart <lb n="pwa_156.008"/> der vereinzelnden und leblosen und ideenlosen Beschreibung auf die <lb n="pwa_156.009"/> Spitze getrieben, bei dem Schwaben Karl Mayer. Von ihm erschien <lb n="pwa_156.010"/> 1833 ein ganzer Band solcher Gedichte, zu denen alljährlich der <lb n="pwa_156.011"/> Leipziger Musenalmanach immer noch neuen Zuwachs brachte: das, <lb n="pwa_156.012"/> was er Lieder betitelt, sind nichts als einzelne landschaftliche Skizzen, <lb n="pwa_156.013"/> so kleine und beschränkte Anschauungen, dass historisches Leben nur <lb n="pwa_156.014"/> in den wenigsten Fällen möglich wäre; ebenso selten zeigt sich hier <lb n="pwa_156.015"/> ideale Bedeutung und Beziehung.</p> <p><lb n="pwa_156.016"/> Mehr ist über diese unpoetische Art von Poesie nicht zu bemerken. <lb n="pwa_156.017"/> Man könnte aber dergleichen beschreibende und gnomische Gedichte <lb n="pwa_156.018"/> mit zur didactischen Lyrik rechnen wollen. Um so nöthiger war es <lb n="pwa_156.019"/> für uns, sie gleich von vorn herein zu beseitigen und uns das Feld <lb n="pwa_156.020"/> zu säubern für dasjenige, was nun noch von wirklicher didactischer <lb n="pwa_156.021"/> Lyrik abzuhandeln ist.</p> <p><lb n="pwa_156.022"/> Es ist also die didactische Lyrik zwar auch, wie alle Lyrik, eine <lb n="pwa_156.023"/> Poesie der inneren Zustände, des Gefühls: aber die Erregung des <lb n="pwa_156.024"/> Gefühls ist keine so unmittelbare, als das sonst der Fall ist; das <lb n="pwa_156.025"/> epische Motiv, das überall der Anfangs- und Anregungspunkt der <lb n="pwa_156.026"/> inneren Zustände bildet, wirkt hier nicht unmittelbar selber ein, sondern <lb n="pwa_156.027"/> es tritt der Verstand dazwischen, der in seiner Weise jene Einwirkung <lb n="pwa_156.028"/> vermittelt; erst in Folge der Belehrungen des Verstandes <lb n="pwa_156.029"/> regt sich das Gefühl des Dichtenden und auch im Reproducierenden <lb n="pwa_156.030"/> gelangt die Anschauung erst über die Mittelstufe des Verstandes zu <lb n="pwa_156.031"/> seinem Gefühle. Es ist also überall bei der didactischen Lyrik abgesehn <lb n="pwa_156.032"/> auf Belebung des Gefühls durch den Verstand. Und dieser <lb n="pwa_156.033"/> lehrhafte Zweck ist es, durch den sich die didactische Lyrik von der <lb n="pwa_156.034"/> epischen und von der reinen Lyrik unterscheidet.</p> <p><lb n="pwa_156.035"/> Es kann aber die Belehrung der einzige und hauptsächliche Zweck, <lb n="pwa_156.036"/> sie kann auch ein nur beiläufig eintretender sein; das Gedicht kann <lb n="pwa_156.037"/> von Anfang bis zu Ende einen solchen Zweck verfolgen, es kann <lb n="pwa_156.038"/> auch nur stellenweise geschehn. Wir reden von dieser Art zuerst.</p> <p><lb n="pwa_156.039"/> Einmischung einzelner didactischer, lehrender oder beschreibender <lb n="pwa_156.040"/> Stellen in eine sonst lyrische Dichtung wird häufig bei solchen Dichtern <lb n="pwa_156.041"/> vorkommen, die zu jeglicher Poesie einen Hang zur Reflexion </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [156/0174]
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muss man doch zuerst und vor allen Dingen bei jedem Gedichte. Bei pwa_156.002
Matthisson kommt gewöhnlich dazu noch ein anderer, noch schlimmerer pwa_156.003
Fehler: es mangelt seinen meisten Gedichten auch noch die höhere pwa_156.004
Einheit der leitenden und belebenden Idee, einer Idee, um derentwillen pwa_156.005
und aus der heraus all diese Einzelheiten registriert würden. pwa_156.006
Eine kleine Probe dieser Landschaftspoesie findet sich LB. 2, 1206 fgg.
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Bei einem Dichter aber der neuesten Zeit sehen wir diese Unart pwa_156.008
der vereinzelnden und leblosen und ideenlosen Beschreibung auf die pwa_156.009
Spitze getrieben, bei dem Schwaben Karl Mayer. Von ihm erschien pwa_156.010
1833 ein ganzer Band solcher Gedichte, zu denen alljährlich der pwa_156.011
Leipziger Musenalmanach immer noch neuen Zuwachs brachte: das, pwa_156.012
was er Lieder betitelt, sind nichts als einzelne landschaftliche Skizzen, pwa_156.013
so kleine und beschränkte Anschauungen, dass historisches Leben nur pwa_156.014
in den wenigsten Fällen möglich wäre; ebenso selten zeigt sich hier pwa_156.015
ideale Bedeutung und Beziehung.
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Mehr ist über diese unpoetische Art von Poesie nicht zu bemerken. pwa_156.017
Man könnte aber dergleichen beschreibende und gnomische Gedichte pwa_156.018
mit zur didactischen Lyrik rechnen wollen. Um so nöthiger war es pwa_156.019
für uns, sie gleich von vorn herein zu beseitigen und uns das Feld pwa_156.020
zu säubern für dasjenige, was nun noch von wirklicher didactischer pwa_156.021
Lyrik abzuhandeln ist.
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Es ist also die didactische Lyrik zwar auch, wie alle Lyrik, eine pwa_156.023
Poesie der inneren Zustände, des Gefühls: aber die Erregung des pwa_156.024
Gefühls ist keine so unmittelbare, als das sonst der Fall ist; das pwa_156.025
epische Motiv, das überall der Anfangs- und Anregungspunkt der pwa_156.026
inneren Zustände bildet, wirkt hier nicht unmittelbar selber ein, sondern pwa_156.027
es tritt der Verstand dazwischen, der in seiner Weise jene Einwirkung pwa_156.028
vermittelt; erst in Folge der Belehrungen des Verstandes pwa_156.029
regt sich das Gefühl des Dichtenden und auch im Reproducierenden pwa_156.030
gelangt die Anschauung erst über die Mittelstufe des Verstandes zu pwa_156.031
seinem Gefühle. Es ist also überall bei der didactischen Lyrik abgesehn pwa_156.032
auf Belebung des Gefühls durch den Verstand. Und dieser pwa_156.033
lehrhafte Zweck ist es, durch den sich die didactische Lyrik von der pwa_156.034
epischen und von der reinen Lyrik unterscheidet.
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Es kann aber die Belehrung der einzige und hauptsächliche Zweck, pwa_156.036
sie kann auch ein nur beiläufig eintretender sein; das Gedicht kann pwa_156.037
von Anfang bis zu Ende einen solchen Zweck verfolgen, es kann pwa_156.038
auch nur stellenweise geschehn. Wir reden von dieser Art zuerst.
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Einmischung einzelner didactischer, lehrender oder beschreibender pwa_156.040
Stellen in eine sonst lyrische Dichtung wird häufig bei solchen Dichtern pwa_156.041
vorkommen, die zu jeglicher Poesie einen Hang zur Reflexion
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