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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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höchsten und allgemeinsten, die damals nur die Völker Europas beseelen pwa_147.002
konnten, den Interessen der Kreuzzüge, also in Kreuzliedern, wie wir pwa_147.003
deren denn auch ganz so von Provenzalen und Franzosen, wie von pwa_147.004
Deutschen haben. Hier kehren vorübergehend ziemlich die gleichen pwa_147.005
Verhältnisse wieder, unter denen die Pindarische Poesie erwuchs, zum pwa_147.006
Theil nur noch in grösserem und höherem Massstabe: hier war nicht pwa_147.007
bloss ein Spielfest, bei dem die Völker sich vereinigten, und nicht pwa_147.008
bloss ein Localgott, dem es galt zu dienen, hier galt es nicht den Sieger pwa_147.009
zu rühmen, sondern zum Siege anzufeuern, hier wurden keine Lorbeerkränze pwa_147.010
vertheilt, sondern himmlische Kronen verheissen. Dergleichen pwa_147.011
Lieder sind es auch namentlich, in denen der bedeutendste deutsche pwa_147.012
Lyriker des Mittelalters, Walther von der Vogelweide, die nahe Verwandtschaft pwa_147.013
besonders kund thut, die überhaupt zwischen ihm und pwa_147.014
Pindar besteht. Vorzüglich kommt hier ein Kreuzlied in Betracht, pwa_147.015
das Walther im Jahre 1228 gedichtet hat, und das zufällig sogar bis pwa_147.016
in minder wichtige Einzelheiten hinein an Pindars Art und Weise pwa_147.017
anklingt, nur dass es, indem der Dichter den altfranzösischen Alexandriner pwa_147.018
zur Anwendung bringt, mehr epische Einfachheit hat, und dass pwa_147.019
die bei Pindar seltnere Wehmuth die durchgreifende Empfindung ist: pwa_147.020
vgl. LB. 14, 408 (15, 587); Wackernagels Walther S. 74. Nachdem pwa_147.021
Walther mit der Freudlosigkeit der Welt begonnen, welche ihn befremdet, pwa_147.022
der sie fröhlicher gesehen, stellt er sich, um das zu schildern, pwa_147.023
in sagenhafter Weise als einen dar, der wie die h. Schläfer der pwa_147.024
Legende so lange gelegen und geschlummert habe, dass die Welt in pwa_147.025
der Zeit eine andre geworden. "Aber", so fährt dann die Betrachtung pwa_147.026
mit einem plötzlichen Uebergange fort, "alle Wonne dieser Welt ist pwa_147.027
doch nichts: ringet nach der himmlischen, wappnet euch und ziehet über pwa_147.028
See". Und diese Schlussermahnung legt er dem Boten in den Mund, pwa_147.029
der statt seiner das Ganze an irgend einem Hofe vorzutragen hat, pwa_147.030
grade wie auch bei Pindar öfter der Chor in erster Person aus eignem pwa_147.031
Munde spricht.

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Was aber ganz besonders hervorzuheben ist, die Lyrik des Mittelalters pwa_147.033
besass eine Form, welche sich der chorischen Poesie der Dorier pwa_147.034
ziemlich eng und genau anschliesst: der deutsche Name dafür ist pwa_147.035
Leich, was so viel als Spiel, Tanz bedeutet. Die Leiche bestanden aus pwa_147.036
einer Reihe ungleichartiger Strophen, von denen jede in zwei gleiche pwa_147.037
Theile zerfiel, und waren gleich den Chorliedern der Dorier bestimmt, pwa_147.038
von Instrumentalmusik und Tanz begleitet zu werden. Die Uebereinstimmung pwa_147.039
geht aber noch weiter. Die Gelegenheitslyrik der Dorier pwa_147.040
beruht auf der ältern Gelegenheitsepik, die zumal religiöse Beziehungen pwa_147.041
hatte, und sie selbst war immer noch mehr oder weniger religiös.

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höchsten und allgemeinsten, die damals nur die Völker Europas beseelen pwa_147.002
konnten, den Interessen der Kreuzzüge, also in Kreuzliedern, wie wir pwa_147.003
deren denn auch ganz so von Provenzalen und Franzosen, wie von pwa_147.004
Deutschen haben. Hier kehren vorübergehend ziemlich die gleichen pwa_147.005
Verhältnisse wieder, unter denen die Pindarische Poesie erwuchs, zum pwa_147.006
Theil nur noch in grösserem und höherem Massstabe: hier war nicht pwa_147.007
bloss ein Spielfest, bei dem die Völker sich vereinigten, und nicht pwa_147.008
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zu rühmen, sondern zum Siege anzufeuern, hier wurden keine Lorbeerkränze pwa_147.010
vertheilt, sondern himmlische Kronen verheissen. Dergleichen pwa_147.011
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Lyriker des Mittelalters, Walther von der Vogelweide, die nahe Verwandtschaft pwa_147.013
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Pindar besteht. Vorzüglich kommt hier ein Kreuzlied in Betracht, pwa_147.015
das Walther im Jahre 1228 gedichtet hat, und das zufällig sogar bis pwa_147.016
in minder wichtige Einzelheiten hinein an Pindars Art und Weise pwa_147.017
anklingt, nur dass es, indem der Dichter den altfranzösischen Alexandriner pwa_147.018
zur Anwendung bringt, mehr epische Einfachheit hat, und dass pwa_147.019
die bei Pindar seltnere Wehmuth die durchgreifende Empfindung ist: pwa_147.020
vgl. LB. 14, 408 (15, 587); Wackernagels Walther S. 74. Nachdem pwa_147.021
Walther mit der Freudlosigkeit der Welt begonnen, welche ihn befremdet, pwa_147.022
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Legende so lange gelegen und geschlummert habe, dass die Welt in pwa_147.025
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doch nichts: ringet nach der himmlischen, wappnet euch und ziehet über pwa_147.028
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Munde spricht.

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Was aber ganz besonders hervorzuheben ist, die Lyrik des Mittelalters pwa_147.033
besass eine Form, welche sich der chorischen Poesie der Dorier pwa_147.034
ziemlich eng und genau anschliesst: der deutsche Name dafür ist pwa_147.035
Leich, was so viel als Spiel, Tanz bedeutet. Die Leiche bestanden aus pwa_147.036
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von Instrumentalmusik und Tanz begleitet zu werden. Die Uebereinstimmung pwa_147.039
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[147/0165] pwa_147.001 höchsten und allgemeinsten, die damals nur die Völker Europas beseelen pwa_147.002 konnten, den Interessen der Kreuzzüge, also in Kreuzliedern, wie wir pwa_147.003 deren denn auch ganz so von Provenzalen und Franzosen, wie von pwa_147.004 Deutschen haben. Hier kehren vorübergehend ziemlich die gleichen pwa_147.005 Verhältnisse wieder, unter denen die Pindarische Poesie erwuchs, zum pwa_147.006 Theil nur noch in grösserem und höherem Massstabe: hier war nicht pwa_147.007 bloss ein Spielfest, bei dem die Völker sich vereinigten, und nicht pwa_147.008 bloss ein Localgott, dem es galt zu dienen, hier galt es nicht den Sieger pwa_147.009 zu rühmen, sondern zum Siege anzufeuern, hier wurden keine Lorbeerkränze pwa_147.010 vertheilt, sondern himmlische Kronen verheissen. Dergleichen pwa_147.011 Lieder sind es auch namentlich, in denen der bedeutendste deutsche pwa_147.012 Lyriker des Mittelalters, Walther von der Vogelweide, die nahe Verwandtschaft pwa_147.013 besonders kund thut, die überhaupt zwischen ihm und pwa_147.014 Pindar besteht. Vorzüglich kommt hier ein Kreuzlied in Betracht, pwa_147.015 das Walther im Jahre 1228 gedichtet hat, und das zufällig sogar bis pwa_147.016 in minder wichtige Einzelheiten hinein an Pindars Art und Weise pwa_147.017 anklingt, nur dass es, indem der Dichter den altfranzösischen Alexandriner pwa_147.018 zur Anwendung bringt, mehr epische Einfachheit hat, und dass pwa_147.019 die bei Pindar seltnere Wehmuth die durchgreifende Empfindung ist: pwa_147.020 vgl. LB. 14, 408 (15, 587); Wackernagels Walther S. 74. Nachdem pwa_147.021 Walther mit der Freudlosigkeit der Welt begonnen, welche ihn befremdet, pwa_147.022 der sie fröhlicher gesehen, stellt er sich, um das zu schildern, pwa_147.023 in sagenhafter Weise als einen dar, der wie die h. Schläfer der pwa_147.024 Legende so lange gelegen und geschlummert habe, dass die Welt in pwa_147.025 der Zeit eine andre geworden. „Aber“, so fährt dann die Betrachtung pwa_147.026 mit einem plötzlichen Uebergange fort, „alle Wonne dieser Welt ist pwa_147.027 doch nichts: ringet nach der himmlischen, wappnet euch und ziehet über pwa_147.028 See“. Und diese Schlussermahnung legt er dem Boten in den Mund, pwa_147.029 der statt seiner das Ganze an irgend einem Hofe vorzutragen hat, pwa_147.030 grade wie auch bei Pindar öfter der Chor in erster Person aus eignem pwa_147.031 Munde spricht. pwa_147.032 Was aber ganz besonders hervorzuheben ist, die Lyrik des Mittelalters pwa_147.033 besass eine Form, welche sich der chorischen Poesie der Dorier pwa_147.034 ziemlich eng und genau anschliesst: der deutsche Name dafür ist pwa_147.035 Leich, was so viel als Spiel, Tanz bedeutet. Die Leiche bestanden aus pwa_147.036 einer Reihe ungleichartiger Strophen, von denen jede in zwei gleiche pwa_147.037 Theile zerfiel, und waren gleich den Chorliedern der Dorier bestimmt, pwa_147.038 von Instrumentalmusik und Tanz begleitet zu werden. Die Uebereinstimmung pwa_147.039 geht aber noch weiter. Die Gelegenheitslyrik der Dorier pwa_147.040 beruht auf der ältern Gelegenheitsepik, die zumal religiöse Beziehungen pwa_147.041 hatte, und sie selbst war immer noch mehr oder weniger religiös.

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/165>, abgerufen am 22.11.2024.