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Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873

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Auffassung und Behandlung der Fabel Einseitiges und pwa_116.002
Unpoetisches war, wieder gut zu machen und überhaupt derselben eine pwa_116.003
neue glückliche Wendung zu geben: eine Wendung, durch welche sie pwa_116.004
freilich in vielen Fällen aus dem Gebiete der Epik in das der Lyrik pwa_116.005
hinüber gerückt wird. Fröhlich betrachtet nämlich die Wirklichkeit pwa_116.006
weniger vom Standpuncte des Verstandes als von dem des Gemüths; pwa_116.007
er geht weniger auf Mittheilung eines Erfahrungssatzes, einer blossen pwa_116.008
Vorschrift aus, als darauf, in seinem Leser unmittelbar irgend eine pwa_116.009
bestimmte Empfindung anzuregen. Und was dann diesem Zwecke pwa_116.010
auch wohl angemessen ist, die Wirklichkeit, welcher er sich anschliesst, pwa_116.011
ist gern eine landschaftliche: es sind häufig kleine Landschaftsbilder, pwa_116.012
die er dem Leser vor Augen stellt, und diese dann immer mit so pwa_116.013
viel idyllischer Objectivität aufgefasst, dass man die Absicht zu lehren pwa_116.014
kaum bemerkt, dass es eher scheint, der Dichter wolle an der Wirklichkeit pwa_116.015
lehren als durch dieselbe. Natürlich haben diese Fabeln die pwa_116.016
poetische Form und keine Epimythien (LB. 2, 1749).

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Jetzt haben wir nur noch vom Sprichwort zu reden.

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Das characteristische Merkmal, wodurch sich die eigentlichen pwa_116.019
Sprichwörter von den blossen Sprüchen oder Sentenzen oder Gnomen pwa_116.020
unterscheiden, ist dieses, dass die letzteren irgend eine sittliche Lehre pwa_116.021
oder Wahrnehmung ganz abstract und allgemein in möglichster Kürze pwa_116.022
aussprechen, gewöhnlich eben bloss als Wort des Verstandes, nur pwa_116.023
zuweilen mit einer mehr gemüthlichen Beziehung und Wendung; daher pwa_116.024
sie auch zum meisten Theile ganz ausserhalb der Poesie liegen, wo pwa_116.025
sie aber poetisch können genannt werden, zur didactischen Lyrik zu pwa_116.026
rechnen sind; dass dagegen das Sprichwort nicht beim Abstracten pwa_116.027
und Allgemeinen stehn bleibt, sondern der Abstraction eine concrete pwa_116.028
Gestaltung giebt, die Allgemeinheit in eine abgegrenzte Anschauung pwa_116.029
aus der sinnlichen Wirklichkeit besondert und concentriert. Es ist pwa_116.030
also z. B. nur eine Sentenz, so lange es heisst: "Auf Warnungen des pwa_116.031
erfahrenen Alters soll man achten"; und erst durch die Versinnlichung pwa_116.032
und Besonderung: "Wenn ein alter Hund bellt, soll man hinaussehn" pwa_116.033
wird der Moralsatz zum Sprichwort. Mithin ist das Sprichwort eine pwa_116.034
sinnlich umwundene Sentenz; daher auch der lateinische Name proverbium, pwa_116.035
Fürwort, stellvertretendes Wort, nicht das eigentliche und pwa_116.036
gewöhnliche; und der griechische paroimia, was neben dem Wege pwa_116.037
liegt, nicht auf dem graden Wege selbst, das, wozu man erst seitwärts pwa_116.038
ablenken muss. Der deutsche Name Sprichwort, von spriche pwa_116.039
d. h. Wort, oder mit ganz ungrammatischer Schreibung Sprüchwort, pwa_116.040
bezeichnet nur in prägnant tautologischer Weise, dass es gesprochen, pwa_116.041
d. h. häufig und gewöhnlich gesprochen werde.

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Auffassung und Behandlung der Fabel Einseitiges und pwa_116.002
Unpoetisches war, wieder gut zu machen und überhaupt derselben eine pwa_116.003
neue glückliche Wendung zu geben: eine Wendung, durch welche sie pwa_116.004
freilich in vielen Fällen aus dem Gebiete der Epik in das der Lyrik pwa_116.005
hinüber gerückt wird. Fröhlich betrachtet nämlich die Wirklichkeit pwa_116.006
weniger vom Standpuncte des Verstandes als von dem des Gemüths; pwa_116.007
er geht weniger auf Mittheilung eines Erfahrungssatzes, einer blossen pwa_116.008
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bestimmte Empfindung anzuregen. Und was dann diesem Zwecke pwa_116.010
auch wohl angemessen ist, die Wirklichkeit, welcher er sich anschliesst, pwa_116.011
ist gern eine landschaftliche: es sind häufig kleine Landschaftsbilder, pwa_116.012
die er dem Leser vor Augen stellt, und diese dann immer mit so pwa_116.013
viel idyllischer Objectivität aufgefasst, dass man die Absicht zu lehren pwa_116.014
kaum bemerkt, dass es eher scheint, der Dichter wolle an der Wirklichkeit pwa_116.015
lehren als durch dieselbe. Natürlich haben diese Fabeln die pwa_116.016
poetische Form und keine Epimythien (LB. 2, 1749).

pwa_116.017
Jetzt haben wir nur noch vom Sprichwort zu reden.

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Das characteristische Merkmal, wodurch sich die eigentlichen pwa_116.019
Sprichwörter von den blossen Sprüchen oder Sentenzen oder Gnomen pwa_116.020
unterscheiden, ist dieses, dass die letzteren irgend eine sittliche Lehre pwa_116.021
oder Wahrnehmung ganz abstract und allgemein in möglichster Kürze pwa_116.022
aussprechen, gewöhnlich eben bloss als Wort des Verstandes, nur pwa_116.023
zuweilen mit einer mehr gemüthlichen Beziehung und Wendung; daher pwa_116.024
sie auch zum meisten Theile ganz ausserhalb der Poesie liegen, wo pwa_116.025
sie aber poetisch können genannt werden, zur didactischen Lyrik zu pwa_116.026
rechnen sind; dass dagegen das Sprichwort nicht beim Abstracten pwa_116.027
und Allgemeinen stehn bleibt, sondern der Abstraction eine concrete pwa_116.028
Gestaltung giebt, die Allgemeinheit in eine abgegrenzte Anschauung pwa_116.029
aus der sinnlichen Wirklichkeit besondert und concentriert. Es ist pwa_116.030
also z. B. nur eine Sentenz, so lange es heisst: „Auf Warnungen des pwa_116.031
erfahrenen Alters soll man achten“; und erst durch die Versinnlichung pwa_116.032
und Besonderung: „Wenn ein alter Hund bellt, soll man hinaussehn“ pwa_116.033
wird der Moralsatz zum Sprichwort. Mithin ist das Sprichwort eine pwa_116.034
sinnlich umwundene Sentenz; daher auch der lateinische Name proverbium, pwa_116.035
Fürwort, stellvertretendes Wort, nicht das eigentliche und pwa_116.036
gewöhnliche; und der griechische παροιμία, was neben dem Wege pwa_116.037
liegt, nicht auf dem graden Wege selbst, das, wozu man erst seitwärts pwa_116.038
ablenken muss. Der deutsche Name Sprichwort, von spriche pwa_116.039
d. h. Wort, oder mit ganz ungrammatischer Schreibung Sprüchwort, pwa_116.040
bezeichnet nur in prägnant tautologischer Weise, dass es gesprochen, pwa_116.041
d. h. häufig und gewöhnlich gesprochen werde.

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[116/0134] pwa_116.001 Auffassung und Behandlung der Fabel Einseitiges und pwa_116.002 Unpoetisches war, wieder gut zu machen und überhaupt derselben eine pwa_116.003 neue glückliche Wendung zu geben: eine Wendung, durch welche sie pwa_116.004 freilich in vielen Fällen aus dem Gebiete der Epik in das der Lyrik pwa_116.005 hinüber gerückt wird. Fröhlich betrachtet nämlich die Wirklichkeit pwa_116.006 weniger vom Standpuncte des Verstandes als von dem des Gemüths; pwa_116.007 er geht weniger auf Mittheilung eines Erfahrungssatzes, einer blossen pwa_116.008 Vorschrift aus, als darauf, in seinem Leser unmittelbar irgend eine pwa_116.009 bestimmte Empfindung anzuregen. Und was dann diesem Zwecke pwa_116.010 auch wohl angemessen ist, die Wirklichkeit, welcher er sich anschliesst, pwa_116.011 ist gern eine landschaftliche: es sind häufig kleine Landschaftsbilder, pwa_116.012 die er dem Leser vor Augen stellt, und diese dann immer mit so pwa_116.013 viel idyllischer Objectivität aufgefasst, dass man die Absicht zu lehren pwa_116.014 kaum bemerkt, dass es eher scheint, der Dichter wolle an der Wirklichkeit pwa_116.015 lehren als durch dieselbe. Natürlich haben diese Fabeln die pwa_116.016 poetische Form und keine Epimythien (LB. 2, 1749). pwa_116.017 Jetzt haben wir nur noch vom Sprichwort zu reden. pwa_116.018 Das characteristische Merkmal, wodurch sich die eigentlichen pwa_116.019 Sprichwörter von den blossen Sprüchen oder Sentenzen oder Gnomen pwa_116.020 unterscheiden, ist dieses, dass die letzteren irgend eine sittliche Lehre pwa_116.021 oder Wahrnehmung ganz abstract und allgemein in möglichster Kürze pwa_116.022 aussprechen, gewöhnlich eben bloss als Wort des Verstandes, nur pwa_116.023 zuweilen mit einer mehr gemüthlichen Beziehung und Wendung; daher pwa_116.024 sie auch zum meisten Theile ganz ausserhalb der Poesie liegen, wo pwa_116.025 sie aber poetisch können genannt werden, zur didactischen Lyrik zu pwa_116.026 rechnen sind; dass dagegen das Sprichwort nicht beim Abstracten pwa_116.027 und Allgemeinen stehn bleibt, sondern der Abstraction eine concrete pwa_116.028 Gestaltung giebt, die Allgemeinheit in eine abgegrenzte Anschauung pwa_116.029 aus der sinnlichen Wirklichkeit besondert und concentriert. Es ist pwa_116.030 also z. B. nur eine Sentenz, so lange es heisst: „Auf Warnungen des pwa_116.031 erfahrenen Alters soll man achten“; und erst durch die Versinnlichung pwa_116.032 und Besonderung: „Wenn ein alter Hund bellt, soll man hinaussehn“ pwa_116.033 wird der Moralsatz zum Sprichwort. Mithin ist das Sprichwort eine pwa_116.034 sinnlich umwundene Sentenz; daher auch der lateinische Name proverbium, pwa_116.035 Fürwort, stellvertretendes Wort, nicht das eigentliche und pwa_116.036 gewöhnliche; und der griechische παροιμία, was neben dem Wege pwa_116.037 liegt, nicht auf dem graden Wege selbst, das, wozu man erst seitwärts pwa_116.038 ablenken muss. Der deutsche Name Sprichwort, von spriche pwa_116.039 d. h. Wort, oder mit ganz ungrammatischer Schreibung Sprüchwort, pwa_116.040 bezeichnet nur in prägnant tautologischer Weise, dass es gesprochen, pwa_116.041 d. h. häufig und gewöhnlich gesprochen werde.

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Zitationshilfe: Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wackernagel_poetik_1873/134>, abgerufen am 25.11.2024.