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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

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Odüßee.
Unter dem Schwarme begann ein übermütiger Jüngling:

Sicher bereitet sich jezo die schöne Fürstin zur Hochzeit, 770
Und denkt nicht an den Tod, der ihrem Sohne bevorsteht!

Also sprachen die Freier, und wußten nicht, was geschehn war.
Aber Eupeithäs Sohn Antinoos sprach zur Versammlung:

Unglückselige, meidet die übermütigen Reden
Allzumal, damit uns im Hause keiner verrathe! 775
Laßt uns jezo vielmehr so still aufstehen, den Rathschluß
Auszuführen, den eben die ganze Versammlung gebilligt!

Also sprach er, und wählte sich zwanzig tapfere Männer.
Und sie eilten zum rüstigen Schiff am Strande des Meeres:
Zogen zuerst das Schiff hinab ins tiefe Gewäßer, 780
Trugen den Mast hinein und die Segel des schwärzlichen Schiffes;
Hängten darauf die Ruder in ihre ledernen Wirbel,
Alles wie sichs gebührt, und spannten die schimmernden Segel.
Ihre Rüstungen brachten die übermütigen Diener.
Und sie stellten das Schiff im hohen Waßer des Hafens, 785
Stiegen hinein, und nahmen das Mahl, und harrten der Dämmrung.

Aber Pänelopeia im oberen Söller des Hauses
Legte sich hin, nicht Trank noch Speise kostend, bekümmert:
Ob ihr treflicher Sohn entflöhe dem Todesverhängniß,
Oder ob ihn die Schaar der trozigen Freier besiegte. 790
Wie im Getümmel der Männer die zweifelnde Löwin umherblickt,
Voller Furcht, denn rings umgeben sie laurende Jäger:
Also sann sie voll Angst. Doch sanft umfing sie der Schlummer,
Und sie entschlief hinsinkend, es lösten sich alle Gelenke.

Aber ein Neues ersann die heilige Pallas Athänä: 795
Siehe, ein Luftgebild erschuf sie in weiblicher Schönheit,

Oduͤßee.
Unter dem Schwarme begann ein uͤbermuͤtiger Juͤngling:

Sicher bereitet ſich jezo die ſchoͤne Fuͤrſtin zur Hochzeit, 770
Und denkt nicht an den Tod, der ihrem Sohne bevorſteht!

Alſo ſprachen die Freier, und wußten nicht, was geſchehn war.
Aber Eupeithaͤs Sohn Antinoos ſprach zur Verſammlung:

Ungluͤckſelige, meidet die uͤbermuͤtigen Reden
Allzumal, damit uns im Hauſe keiner verrathe! 775
Laßt uns jezo vielmehr ſo ſtill aufſtehen, den Rathſchluß
Auszufuͤhren, den eben die ganze Verſammlung gebilligt!

Alſo ſprach er, und waͤhlte ſich zwanzig tapfere Maͤnner.
Und ſie eilten zum ruͤſtigen Schiff am Strande des Meeres:
Zogen zuerſt das Schiff hinab ins tiefe Gewaͤßer, 780
Trugen den Maſt hinein und die Segel des ſchwaͤrzlichen Schiffes;
Haͤngten darauf die Ruder in ihre ledernen Wirbel,
Alles wie ſichs gebuͤhrt, und ſpannten die ſchimmernden Segel.
Ihre Ruͤſtungen brachten die uͤbermuͤtigen Diener.
Und ſie ſtellten das Schiff im hohen Waßer des Hafens, 785
Stiegen hinein, und nahmen das Mahl, und harrten der Daͤmmrung.

Aber Paͤnelopeia im oberen Soͤller des Hauſes
Legte ſich hin, nicht Trank noch Speiſe koſtend, bekuͤmmert:
Ob ihr treflicher Sohn entfloͤhe dem Todesverhaͤngniß,
Oder ob ihn die Schaar der trozigen Freier beſiegte. 790
Wie im Getuͤmmel der Maͤnner die zweifelnde Loͤwin umherblickt,
Voller Furcht, denn rings umgeben ſie laurende Jaͤger:
Alſo ſann ſie voll Angſt. Doch ſanft umfing ſie der Schlummer,
Und ſie entſchlief hinſinkend, es loͤſten ſich alle Gelenke.

Aber ein Neues erſann die heilige Pallas Athaͤnaͤ: 795
Siehe, ein Luftgebild erſchuf ſie in weiblicher Schoͤnheit,

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[92/0098] Oduͤßee. Unter dem Schwarme begann ein uͤbermuͤtiger Juͤngling: Sicher bereitet ſich jezo die ſchoͤne Fuͤrſtin zur Hochzeit, Und denkt nicht an den Tod, der ihrem Sohne bevorſteht! 770 Alſo ſprachen die Freier, und wußten nicht, was geſchehn war. Aber Eupeithaͤs Sohn Antinoos ſprach zur Verſammlung: Ungluͤckſelige, meidet die uͤbermuͤtigen Reden Allzumal, damit uns im Hauſe keiner verrathe! Laßt uns jezo vielmehr ſo ſtill aufſtehen, den Rathſchluß Auszufuͤhren, den eben die ganze Verſammlung gebilligt! 775 Alſo ſprach er, und waͤhlte ſich zwanzig tapfere Maͤnner. Und ſie eilten zum ruͤſtigen Schiff am Strande des Meeres: Zogen zuerſt das Schiff hinab ins tiefe Gewaͤßer, Trugen den Maſt hinein und die Segel des ſchwaͤrzlichen Schiffes; Haͤngten darauf die Ruder in ihre ledernen Wirbel, Alles wie ſichs gebuͤhrt, und ſpannten die ſchimmernden Segel. Ihre Ruͤſtungen brachten die uͤbermuͤtigen Diener. Und ſie ſtellten das Schiff im hohen Waßer des Hafens, Stiegen hinein, und nahmen das Mahl, und harrten der Daͤmmrung. 780 785 Aber Paͤnelopeia im oberen Soͤller des Hauſes Legte ſich hin, nicht Trank noch Speiſe koſtend, bekuͤmmert: Ob ihr treflicher Sohn entfloͤhe dem Todesverhaͤngniß, Oder ob ihn die Schaar der trozigen Freier beſiegte. Wie im Getuͤmmel der Maͤnner die zweifelnde Loͤwin umherblickt, Voller Furcht, denn rings umgeben ſie laurende Jaͤger: Alſo ſann ſie voll Angſt. Doch ſanft umfing ſie der Schlummer, Und ſie entſchlief hinſinkend, es loͤſten ſich alle Gelenke. 790 Aber ein Neues erſann die heilige Pallas Athaͤnaͤ: Siehe, ein Luftgebild erſchuf ſie in weiblicher Schoͤnheit, 795

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Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/98>, abgerufen am 07.05.2024.