Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.Odüßee. Quält' uns der thranichte Dunst der meergemästeten Robben!Denn wer ruhte wohl gerne bei Ungeheuern des Meeres? Aber die Göttin ersann zu unserer Rettung ein Labsal: Denn sie strich uns allen Ambrosia unter die Nasen, 445 Deßen lieblicher Duft des Thranes Gerüche vertilgte. Also lauerten wir den ganzen Morgen geduldig. Schaarweis kamen die Robben nun aus dem Waßer, und legten Nach der Reihe sich hin am rauschenden Ufer des Meeres. Aber am Mittag kam der göttliche Greis aus dem Waßer, 45[0] Ging bei den feisten Robben umher, und zählte sie alle. Also zählt er auch uns für Ungeheuer, und dachte Gar an keinen Betrug; dann legt' er sich selber zu ihnen. Plözlich fuhren wir auf mit Geschrei, und schlangen die Hände Schnell um den Greis; doch dieser vergaß der betrieglichen Kunst nicht. 45[5] Erstlich ward er ein Leu mit fürchterlichwallender Mähne, Drauf ein Pardel, ein bläulicher Drach', und ein zürnender Eber, Floß dann als Waßer dahin, und rauscht' als Baum in den Wolken. Aber wir hielten ihn fest mit unerschrockener Seele. Als nun der zaubernde Greis ermüdete sich zu verwandeln, 46[0] Da begann er selber mich anzureden, und fragte: Welcher unter den Göttern, Atreide, gab dir den Anschlag, Also sprach er; und ich antwortete wieder, und sagte: Oduͤßee. Quaͤlt' uns der thranichte Dunſt der meergemaͤſteten Robben!Denn wer ruhte wohl gerne bei Ungeheuern des Meeres? Aber die Goͤttin erſann zu unſerer Rettung ein Labſal: Denn ſie ſtrich uns allen Ambroſia unter die Naſen, 445 Deßen lieblicher Duft des Thranes Geruͤche vertilgte. Alſo lauerten wir den ganzen Morgen geduldig. Schaarweis kamen die Robben nun aus dem Waßer, und legten Nach der Reihe ſich hin am rauſchenden Ufer des Meeres. Aber am Mittag kam der goͤttliche Greis aus dem Waßer, 45[0] Ging bei den feiſten Robben umher, und zaͤhlte ſie alle. Alſo zaͤhlt er auch uns fuͤr Ungeheuer, und dachte Gar an keinen Betrug; dann legt' er ſich ſelber zu ihnen. Ploͤzlich fuhren wir auf mit Geſchrei, und ſchlangen die Haͤnde Schnell um den Greis; doch dieſer vergaß der betrieglichen Kunſt nicht. 45[5] Erſtlich ward er ein Leu mit fuͤrchterlichwallender Maͤhne, Drauf ein Pardel, ein blaͤulicher Drach', und ein zuͤrnender Eber, Floß dann als Waßer dahin, und rauſcht' als Baum in den Wolken. Aber wir hielten ihn feſt mit unerſchrockener Seele. Als nun der zaubernde Greis ermuͤdete ſich zu verwandeln, 46[0] Da begann er ſelber mich anzureden, und fragte: Welcher unter den Goͤttern, Atreide, gab dir den Anſchlag, Alſo ſprach er; und ich antwortete wieder, und ſagte: <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0086" n="80"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Oduͤßee.</hi></fw><lb/> Quaͤlt' uns der thranichte Dunſt der meergemaͤſteten Robben!<lb/> Denn wer ruhte wohl gerne bei Ungeheuern des Meeres?<lb/> Aber die Goͤttin erſann zu unſerer Rettung ein Labſal:<lb/> Denn ſie ſtrich uns allen Ambroſia unter die Naſen, <note place="right">445</note><lb/> Deßen lieblicher Duft des Thranes Geruͤche vertilgte.<lb/> Alſo lauerten wir den ganzen Morgen geduldig.<lb/> Schaarweis kamen die Robben nun aus dem Waßer, und legten<lb/> Nach der Reihe ſich hin am rauſchenden Ufer des Meeres.<lb/> Aber am Mittag kam der goͤttliche Greis aus dem Waßer, <note place="right">45<supplied>0</supplied></note><lb/> Ging bei den feiſten Robben umher, und zaͤhlte ſie alle.<lb/> Alſo zaͤhlt er auch uns fuͤr Ungeheuer, und dachte<lb/> Gar an keinen Betrug; dann legt' er ſich ſelber zu ihnen.<lb/> Ploͤzlich fuhren wir auf mit Geſchrei, und ſchlangen die Haͤnde<lb/> Schnell um den Greis; doch dieſer vergaß der betrieglichen Kunſt nicht. <note place="right">45<supplied>5</supplied></note><lb/> Erſtlich ward er ein Leu mit fuͤrchterlichwallender Maͤhne,<lb/> Drauf ein Pardel, ein blaͤulicher Drach', und ein zuͤrnender Eber,<lb/> Floß dann als Waßer dahin, und rauſcht' als Baum in den Wolken.<lb/> Aber wir hielten ihn feſt mit unerſchrockener Seele.<lb/> Als nun der zaubernde Greis ermuͤdete ſich zu verwandeln, <note place="right">46<supplied>0</supplied></note><lb/> Da begann er ſelber mich anzureden, und fragte:</p><lb/> <p>Welcher unter den Goͤttern, Atreide, gab dir den Anſchlag,<lb/> Daß du mit Hinterliſt mich fliehenden faͤngſt? Was bedarfſt du?</p><lb/> <p>Alſo ſprach er; und ich antwortete wieder, und ſagte:<lb/> Alter, du weißt es, (warum verſtellſt du dich, dieſes zu fragen?) <note place="right">46<supplied>5</supplied></note><lb/> Daß ich ſo lang' auf der Inſel verweil', und nirgends ein Ausweg<lb/> Aus dem Jammer ſich zeigt, da das Herz den Genoßen entſchwindet!<lb/> Drum verkuͤndige mir, die Goͤtter wißen ja alles!<lb/> Wer der Unſterblichen haͤlt mich hier auf, und hindert die Reiſe?<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [80/0086]
Oduͤßee.
Quaͤlt' uns der thranichte Dunſt der meergemaͤſteten Robben!
Denn wer ruhte wohl gerne bei Ungeheuern des Meeres?
Aber die Goͤttin erſann zu unſerer Rettung ein Labſal:
Denn ſie ſtrich uns allen Ambroſia unter die Naſen,
Deßen lieblicher Duft des Thranes Geruͤche vertilgte.
Alſo lauerten wir den ganzen Morgen geduldig.
Schaarweis kamen die Robben nun aus dem Waßer, und legten
Nach der Reihe ſich hin am rauſchenden Ufer des Meeres.
Aber am Mittag kam der goͤttliche Greis aus dem Waßer,
Ging bei den feiſten Robben umher, und zaͤhlte ſie alle.
Alſo zaͤhlt er auch uns fuͤr Ungeheuer, und dachte
Gar an keinen Betrug; dann legt' er ſich ſelber zu ihnen.
Ploͤzlich fuhren wir auf mit Geſchrei, und ſchlangen die Haͤnde
Schnell um den Greis; doch dieſer vergaß der betrieglichen Kunſt nicht.
Erſtlich ward er ein Leu mit fuͤrchterlichwallender Maͤhne,
Drauf ein Pardel, ein blaͤulicher Drach', und ein zuͤrnender Eber,
Floß dann als Waßer dahin, und rauſcht' als Baum in den Wolken.
Aber wir hielten ihn feſt mit unerſchrockener Seele.
Als nun der zaubernde Greis ermuͤdete ſich zu verwandeln,
Da begann er ſelber mich anzureden, und fragte:
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Welcher unter den Goͤttern, Atreide, gab dir den Anſchlag,
Daß du mit Hinterliſt mich fliehenden faͤngſt? Was bedarfſt du?
Alſo ſprach er; und ich antwortete wieder, und ſagte:
Alter, du weißt es, (warum verſtellſt du dich, dieſes zu fragen?)
Daß ich ſo lang' auf der Inſel verweil', und nirgends ein Ausweg
Aus dem Jammer ſich zeigt, da das Herz den Genoßen entſchwindet!
Drum verkuͤndige mir, die Goͤtter wißen ja alles!
Wer der Unſterblichen haͤlt mich hier auf, und hindert die Reiſe?
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Zitationshilfe: | Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/86>, abgerufen am 22.07.2024. |