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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

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Odüßee.
Wüßtest du diesen nur durch heimliche List zu erhaschen;
Er weißagte dir wohl den Weg und die Mittel der Reise,
Und wie du heimgelangst auf dem fischdurchwimmelten Meere. 390
Auch verkündigt' er dir, Zeus Liebling, wenn du es wolltest,
Was dir Böses und Gutes in deinem Hause geschehn sei,
Weil du ferne warst auf der weiten gefährlichen Reise.

Also sprach sie; und ich antwortete wieder, und sagte:
Nun verkünde mir selber, wie fang' ich den göttlichen Meergreis, 395
Daß er mir nicht entfliehe, mich sehend oder auch ahndend?
Wahrlich schwer wird ein Gott vom sterblichen Manne bezwungen!

Also sprach ich; mir gab die hohe Göttin zur Antwort:
Gerne will ich, o Fremdling, dir lautere Wahrheit verkünden.
Wann die Mittagssonne den hohen Himmel besteiget, 400
Siehe dann kommt aus der Flut der graue untrügliche Meergott,
Unter dem Wehn des Westes, umhüllt vom schwarzen Gekräusel,
Legt sich hin zum Schlummer in überhangende Grotten,
Und floßflüßige Robben der lieblichen Halosüdnä V. 404.
Ruhn in Schaaren um ihn, dem grauen Gewäßer entstiegen, 405
Und verbreiten umher des Meeres herbe Gerüche.
Dorthin will ich dich führen, sobald der Morgen sich röthet,
Und in die Reihe dich legen. Du aber wähle mit Vorsicht
Drei von den kühnsten Genoßen der schöngebordeten Schiffe.
Alle furchtbaren Künste des Greises will ich dir nennen. 410
Erstlich geht er umher, und zählt die liegenden Robben;
Und nachdem er sie alle bei Fünfen gezählt und betrachtet,
Legt er sich mitten hinein, wie ein Schäfer zwischen die Heerde.

V. 404. Halosüdnä, eine Meergöttin, Näreus Tochter.

Oduͤßee.
Wuͤßteſt du dieſen nur durch heimliche Liſt zu erhaſchen;
Er weißagte dir wohl den Weg und die Mittel der Reiſe,
Und wie du heimgelangſt auf dem fiſchdurchwimmelten Meere. 390
Auch verkuͤndigt' er dir, Zeus Liebling, wenn du es wollteſt,
Was dir Boͤſes und Gutes in deinem Hauſe geſchehn ſei,
Weil du ferne warſt auf der weiten gefaͤhrlichen Reiſe.

Alſo ſprach ſie; und ich antwortete wieder, und ſagte:
Nun verkuͤnde mir ſelber, wie fang' ich den goͤttlichen Meergreis, 395
Daß er mir nicht entfliehe, mich ſehend oder auch ahndend?
Wahrlich ſchwer wird ein Gott vom ſterblichen Manne bezwungen!

Alſo ſprach ich; mir gab die hohe Goͤttin zur Antwort:
Gerne will ich, o Fremdling, dir lautere Wahrheit verkuͤnden.
Wann die Mittagsſonne den hohen Himmel beſteiget, 400
Siehe dann kommt aus der Flut der graue untruͤgliche Meergott,
Unter dem Wehn des Weſtes, umhuͤllt vom ſchwarzen Gekraͤuſel,
Legt ſich hin zum Schlummer in uͤberhangende Grotten,
Und floßfluͤßige Robben der lieblichen Haloſuͤdnaͤ V. 404.
Ruhn in Schaaren um ihn, dem grauen Gewaͤßer entſtiegen, 405
Und verbreiten umher des Meeres herbe Geruͤche.
Dorthin will ich dich fuͤhren, ſobald der Morgen ſich roͤthet,
Und in die Reihe dich legen. Du aber waͤhle mit Vorſicht
Drei von den kuͤhnſten Genoßen der ſchoͤngebordeten Schiffe.
Alle furchtbaren Kuͤnſte des Greiſes will ich dir nennen. 410
Erſtlich geht er umher, und zaͤhlt die liegenden Robben;
Und nachdem er ſie alle bei Fuͤnfen gezaͤhlt und betrachtet,
Legt er ſich mitten hinein, wie ein Schaͤfer zwiſchen die Heerde.

V. 404. Haloſuͤdnaͤ, eine Meergoͤttin, Naͤreus Tochter.
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[78/0084] Oduͤßee. Wuͤßteſt du dieſen nur durch heimliche Liſt zu erhaſchen; Er weißagte dir wohl den Weg und die Mittel der Reiſe, Und wie du heimgelangſt auf dem fiſchdurchwimmelten Meere. Auch verkuͤndigt' er dir, Zeus Liebling, wenn du es wollteſt, Was dir Boͤſes und Gutes in deinem Hauſe geſchehn ſei, Weil du ferne warſt auf der weiten gefaͤhrlichen Reiſe. 390 Alſo ſprach ſie; und ich antwortete wieder, und ſagte: Nun verkuͤnde mir ſelber, wie fang' ich den goͤttlichen Meergreis, Daß er mir nicht entfliehe, mich ſehend oder auch ahndend? Wahrlich ſchwer wird ein Gott vom ſterblichen Manne bezwungen! 395 Alſo ſprach ich; mir gab die hohe Goͤttin zur Antwort: Gerne will ich, o Fremdling, dir lautere Wahrheit verkuͤnden. Wann die Mittagsſonne den hohen Himmel beſteiget, Siehe dann kommt aus der Flut der graue untruͤgliche Meergott, Unter dem Wehn des Weſtes, umhuͤllt vom ſchwarzen Gekraͤuſel, Legt ſich hin zum Schlummer in uͤberhangende Grotten, Und floßfluͤßige Robben der lieblichen Haloſuͤdnaͤ V. 404. Ruhn in Schaaren um ihn, dem grauen Gewaͤßer entſtiegen, Und verbreiten umher des Meeres herbe Geruͤche. Dorthin will ich dich fuͤhren, ſobald der Morgen ſich roͤthet, Und in die Reihe dich legen. Du aber waͤhle mit Vorſicht Drei von den kuͤhnſten Genoßen der ſchoͤngebordeten Schiffe. Alle furchtbaren Kuͤnſte des Greiſes will ich dir nennen. Erſtlich geht er umher, und zaͤhlt die liegenden Robben; Und nachdem er ſie alle bei Fuͤnfen gezaͤhlt und betrachtet, Legt er ſich mitten hinein, wie ein Schaͤfer zwiſchen die Heerde. 400 405 410 V. 404. Haloſuͤdnaͤ, eine Meergoͤttin, Naͤreus Tochter.

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Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 78. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/84>, abgerufen am 27.11.2024.