Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Odüßee.
Und verhinderte mich mit weisem Bedachte, zu reden.
Komm denn, und folge mir jezt. Denn ich verbürge mich selber,
Hab' ich dir Lügen gesagt, des kläglichsten Todes zu sterben.

Ihr antwortete drauf die kluge Pänelopeia: 80
Liebe Mutter, den Rath der ewiglebenden Götter
Strebst du umsonst zu erforschen, obgleich du vieles verstehest.
Aber wir wollen doch zu meinem Sohne hinabgehn,
Daß ich die Leichname sehe der Freier, und wer sie getödtet.

Also sprach sie, und stieg hinab. Der Gehenden Herz schlug, 85
Zweifelnd, ob sie den lieben Gemahl von ferne befragte,
Oder entgegen ihm flög', und Händ' und Antliz ihm küßte.
Als sie nun über die Schwelle von glattem Marmor hineintrat,
Sezte sie fern an der Wand, im Glanze des Feuers, Odüßeus
Gegenüber, sich hin. An einer ragenden Seule 90
Saß er, die Augen gesenkt, und wartete, was sie ihm sagen
Würde, die edle Gemahlin, da sie ihn selber erblickte.
Lange saß sie schweigend; ihr Herz war voller Erstaunens.
Jezo glaubte sie schon sein Angesicht zu erkennen,
Jezo verkannte sie ihn in seiner häßlichen Kleidung. 95
Aber Tälemachos sprach unwillig zu Pänelopeia:

Mutter, du böse Mutter, von unempfindlicher Seele!
Warum sonderst du dich von meinem Vater, und sezest
Dich nicht neben ihn hin, und fragst und forschest nach allem?
Keine andere Frau wird sich von ihrem Gemahle 100
So halsstarrig entfernen, der nach unendlicher Trübsal
Endlich im zwanzigsten Jahre zum Vaterlande zurückkehrt!
Aber du trägst im Busen ein Herz, das härter als Stein ist!

Ihm antwortete drauf die kluge Pänelopeia:

Oduͤßee.
Und verhinderte mich mit weiſem Bedachte, zu reden.
Komm denn, und folge mir jezt. Denn ich verbuͤrge mich ſelber,
Hab' ich dir Luͤgen geſagt, des klaͤglichſten Todes zu ſterben.

Ihr antwortete drauf die kluge Paͤnelopeia: 80
Liebe Mutter, den Rath der ewiglebenden Goͤtter
Strebſt du umſonſt zu erforſchen, obgleich du vieles verſteheſt.
Aber wir wollen doch zu meinem Sohne hinabgehn,
Daß ich die Leichname ſehe der Freier, und wer ſie getoͤdtet.

Alſo ſprach ſie, und ſtieg hinab. Der Gehenden Herz ſchlug, 85
Zweifelnd, ob ſie den lieben Gemahl von ferne befragte,
Oder entgegen ihm floͤg', und Haͤnd' und Antliz ihm kuͤßte.
Als ſie nun uͤber die Schwelle von glattem Marmor hineintrat,
Sezte ſie fern an der Wand, im Glanze des Feuers, Oduͤßeus
Gegenuͤber, ſich hin. An einer ragenden Seule 90
Saß er, die Augen geſenkt, und wartete, was ſie ihm ſagen
Wuͤrde, die edle Gemahlin, da ſie ihn ſelber erblickte.
Lange ſaß ſie ſchweigend; ihr Herz war voller Erſtaunens.
Jezo glaubte ſie ſchon ſein Angeſicht zu erkennen,
Jezo verkannte ſie ihn in ſeiner haͤßlichen Kleidung. 95
Aber Taͤlemachos ſprach unwillig zu Paͤnelopeia:

Mutter, du boͤſe Mutter, von unempfindlicher Seele!
Warum ſonderſt du dich von meinem Vater, und ſezeſt
Dich nicht neben ihn hin, und fragſt und forſcheſt nach allem?
Keine andere Frau wird ſich von ihrem Gemahle 100
So halsſtarrig entfernen, der nach unendlicher Truͤbſal
Endlich im zwanzigſten Jahre zum Vaterlande zuruͤckkehrt!
Aber du traͤgſt im Buſen ein Herz, das haͤrter als Stein iſt!

Ihm antwortete drauf die kluge Paͤnelopeia:

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0444" n="438"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Odu&#x0364;ßee.</hi></fw><lb/>
Und verhinderte mich mit wei&#x017F;em Bedachte, zu reden.<lb/>
Komm denn, und folge mir jezt. Denn ich verbu&#x0364;rge mich &#x017F;elber,<lb/>
Hab' ich dir Lu&#x0364;gen ge&#x017F;agt, des kla&#x0364;glich&#x017F;ten Todes zu &#x017F;terben.</p><lb/>
        <p>Ihr antwortete drauf die kluge Pa&#x0364;nelopeia: <note place="right">80</note><lb/>
Liebe Mutter, den Rath der ewiglebenden Go&#x0364;tter<lb/>
Streb&#x017F;t du um&#x017F;on&#x017F;t zu erfor&#x017F;chen, obgleich du vieles ver&#x017F;tehe&#x017F;t.<lb/>
Aber wir wollen doch zu meinem Sohne hinabgehn,<lb/>
Daß ich die Leichname &#x017F;ehe der Freier, und wer &#x017F;ie geto&#x0364;dtet.</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach &#x017F;ie, und &#x017F;tieg hinab. Der Gehenden Herz &#x017F;chlug, <note place="right">85</note><lb/>
Zweifelnd, ob &#x017F;ie den lieben Gemahl von ferne befragte,<lb/>
Oder entgegen ihm flo&#x0364;g', und Ha&#x0364;nd' und Antliz ihm ku&#x0364;ßte.<lb/>
Als &#x017F;ie nun u&#x0364;ber die Schwelle von glattem Marmor hineintrat,<lb/>
Sezte &#x017F;ie fern an der Wand, im Glanze des Feuers, Odu&#x0364;ßeus<lb/>
Gegenu&#x0364;ber, &#x017F;ich hin. An einer ragenden Seule <note place="right">90</note><lb/>
Saß er, die Augen ge&#x017F;enkt, und wartete, was &#x017F;ie ihm &#x017F;agen<lb/>
Wu&#x0364;rde, die edle Gemahlin, da &#x017F;ie ihn &#x017F;elber erblickte.<lb/>
Lange &#x017F;&#x017F;ie &#x017F;chweigend; ihr Herz war voller Er&#x017F;taunens.<lb/>
Jezo glaubte &#x017F;ie &#x017F;chon &#x017F;ein Ange&#x017F;icht zu erkennen,<lb/>
Jezo verkannte &#x017F;ie ihn in &#x017F;einer ha&#x0364;ßlichen Kleidung. <note place="right">95</note><lb/>
Aber Ta&#x0364;lemachos &#x017F;prach unwillig zu Pa&#x0364;nelopeia:</p><lb/>
        <p>Mutter, du bo&#x0364;&#x017F;e Mutter, von unempfindlicher Seele!<lb/>
Warum &#x017F;onder&#x017F;t du dich von meinem Vater, und &#x017F;eze&#x017F;t<lb/>
Dich nicht neben ihn hin, und frag&#x017F;t und for&#x017F;che&#x017F;t nach allem?<lb/>
Keine andere Frau wird &#x017F;ich von ihrem Gemahle <note place="right">100</note><lb/>
So hals&#x017F;tarrig entfernen, der nach unendlicher Tru&#x0364;b&#x017F;al<lb/>
Endlich im zwanzig&#x017F;ten Jahre zum Vaterlande zuru&#x0364;ckkehrt!<lb/>
Aber du tra&#x0364;g&#x017F;t im Bu&#x017F;en ein Herz, das ha&#x0364;rter als Stein i&#x017F;t!</p><lb/>
        <p>Ihm antwortete drauf die kluge Pa&#x0364;nelopeia:<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[438/0444] Oduͤßee. Und verhinderte mich mit weiſem Bedachte, zu reden. Komm denn, und folge mir jezt. Denn ich verbuͤrge mich ſelber, Hab' ich dir Luͤgen geſagt, des klaͤglichſten Todes zu ſterben. Ihr antwortete drauf die kluge Paͤnelopeia: Liebe Mutter, den Rath der ewiglebenden Goͤtter Strebſt du umſonſt zu erforſchen, obgleich du vieles verſteheſt. Aber wir wollen doch zu meinem Sohne hinabgehn, Daß ich die Leichname ſehe der Freier, und wer ſie getoͤdtet. 80 Alſo ſprach ſie, und ſtieg hinab. Der Gehenden Herz ſchlug, Zweifelnd, ob ſie den lieben Gemahl von ferne befragte, Oder entgegen ihm floͤg', und Haͤnd' und Antliz ihm kuͤßte. Als ſie nun uͤber die Schwelle von glattem Marmor hineintrat, Sezte ſie fern an der Wand, im Glanze des Feuers, Oduͤßeus Gegenuͤber, ſich hin. An einer ragenden Seule Saß er, die Augen geſenkt, und wartete, was ſie ihm ſagen Wuͤrde, die edle Gemahlin, da ſie ihn ſelber erblickte. Lange ſaß ſie ſchweigend; ihr Herz war voller Erſtaunens. Jezo glaubte ſie ſchon ſein Angeſicht zu erkennen, Jezo verkannte ſie ihn in ſeiner haͤßlichen Kleidung. Aber Taͤlemachos ſprach unwillig zu Paͤnelopeia: 85 90 95 Mutter, du boͤſe Mutter, von unempfindlicher Seele! Warum ſonderſt du dich von meinem Vater, und ſezeſt Dich nicht neben ihn hin, und fragſt und forſcheſt nach allem? Keine andere Frau wird ſich von ihrem Gemahle So halsſtarrig entfernen, der nach unendlicher Truͤbſal Endlich im zwanzigſten Jahre zum Vaterlande zuruͤckkehrt! Aber du traͤgſt im Buſen ein Herz, das haͤrter als Stein iſt! 100 Ihm antwortete drauf die kluge Paͤnelopeia:

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/444
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/444>, abgerufen am 18.05.2024.