Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Odüßee.
Hätte mir eine der andern, so viel auch Weiber mir dienen,
Solch ein Mährchen verkündet, und mich vom Schlummer erwecket;
Fürchterlich hätt' ich sie gleich, die unwillkommene Botin,
Heimgesandt in den Saal! Dich rettet diesmal dein Alter!

Ihr antwortete drauf die Pflegerin Eurükleia: 25
Liebe Tochter, ich spotte ja nicht! Wahrhaftig, Odüßeus
Ist gekommen, und wieder zu Hause, wie ich dir sage!
Jener Fremdling, den alle so schändlich im Saale verhöhnten!
Und Tälemachos wußte schon lange, daß er daheim sei;
Aber mit weisem Bedacht verschwieg er des Vaters Geheimniß, 30
Bis er den Uebermut der stolzen Männer bestrafet.

Also sprach sie; und freudig entsprang die Fürstin dem Lager,
Und umarmte die Alte, und Thränen umströmten ihr Antliz.
Weinend begann sie jezo, und sprach die geflügelten Worte:

Liebes Mütterchen, sage mir doch die lautere Wahrheit! 35
Ist er denn würklich zu Hause gekommen, wie du erzählest;
O wie hat er den Kampf mit den schamlosen Freiern vollendet,
Er allein mit so vielen, die hier sich täglich ergözten?

Ihr antwortete drauf die Pflegerin Eurükleia:
Weder gesehn hab' ichs, noch sonst erfahren; ich hörte 40
Bloß der Erschlagnen Geächz. Denn hinten in unserer Wohnung
Saßen wir alle voll Angst, bei festverriegelten Thüren;
Bis mich endlich dein Sohn Tälemachos aus dem Gemache
Rief, denn diesen hatte sein Vater gesandt, mich zu rufen.
Und nun fand ich Odüßeus, umringt von erschlagenen Leichen, 45
Stehn, die hochgehäuft, das schöngepflasterte Estrich
Weit bedeckten. O hättest du selbst die Freude gesehen,
Als er mit Blut und Staube besudelt stand, wie ein Löwe!

Oduͤßee.
Haͤtte mir eine der andern, ſo viel auch Weiber mir dienen,
Solch ein Maͤhrchen verkuͤndet, und mich vom Schlummer erwecket;
Fuͤrchterlich haͤtt' ich ſie gleich, die unwillkommene Botin,
Heimgeſandt in den Saal! Dich rettet diesmal dein Alter!

Ihr antwortete drauf die Pflegerin Euruͤkleia: 25
Liebe Tochter, ich ſpotte ja nicht! Wahrhaftig, Oduͤßeus
Iſt gekommen, und wieder zu Hauſe, wie ich dir ſage!
Jener Fremdling, den alle ſo ſchaͤndlich im Saale verhoͤhnten!
Und Taͤlemachos wußte ſchon lange, daß er daheim ſei;
Aber mit weiſem Bedacht verſchwieg er des Vaters Geheimniß, 30
Bis er den Uebermut der ſtolzen Maͤnner beſtrafet.

Alſo ſprach ſie; und freudig entſprang die Fuͤrſtin dem Lager,
Und umarmte die Alte, und Thraͤnen umſtroͤmten ihr Antliz.
Weinend begann ſie jezo, und ſprach die gefluͤgelten Worte:

Liebes Muͤtterchen, ſage mir doch die lautere Wahrheit! 35
Iſt er denn wuͤrklich zu Hauſe gekommen, wie du erzaͤhleſt;
O wie hat er den Kampf mit den ſchamloſen Freiern vollendet,
Er allein mit ſo vielen, die hier ſich taͤglich ergoͤzten?

Ihr antwortete drauf die Pflegerin Euruͤkleia:
Weder geſehn hab' ichs, noch ſonſt erfahren; ich hoͤrte 40
Bloß der Erſchlagnen Geaͤchz. Denn hinten in unſerer Wohnung
Saßen wir alle voll Angſt, bei feſtverriegelten Thuͤren;
Bis mich endlich dein Sohn Taͤlemachos aus dem Gemache
Rief, denn dieſen hatte ſein Vater geſandt, mich zu rufen.
Und nun fand ich Oduͤßeus, umringt von erſchlagenen Leichen, 45
Stehn, die hochgehaͤuft, das ſchoͤngepflaſterte Eſtrich
Weit bedeckten. O haͤtteſt du ſelbſt die Freude geſehen,
Als er mit Blut und Staube beſudelt ſtand, wie ein Loͤwe!

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0442" n="436"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Odu&#x0364;ßee.</hi></fw><lb/>
Ha&#x0364;tte mir eine der andern, &#x017F;o viel auch Weiber mir dienen,<lb/>
Solch ein Ma&#x0364;hrchen verku&#x0364;ndet, und mich vom Schlummer erwecket;<lb/>
Fu&#x0364;rchterlich ha&#x0364;tt' ich &#x017F;ie gleich, die unwillkommene Botin,<lb/>
Heimge&#x017F;andt in den Saal! Dich rettet diesmal dein Alter!</p><lb/>
        <p>Ihr antwortete drauf die Pflegerin Euru&#x0364;kleia: <note place="right">25</note><lb/>
Liebe Tochter, ich &#x017F;potte ja nicht! Wahrhaftig, Odu&#x0364;ßeus<lb/>
I&#x017F;t gekommen, und wieder zu Hau&#x017F;e, wie ich dir &#x017F;age!<lb/>
Jener Fremdling, den alle &#x017F;o &#x017F;cha&#x0364;ndlich im Saale verho&#x0364;hnten!<lb/>
Und Ta&#x0364;lemachos wußte &#x017F;chon lange, daß er daheim &#x017F;ei;<lb/>
Aber mit wei&#x017F;em Bedacht ver&#x017F;chwieg er des Vaters Geheimniß, <note place="right">30</note><lb/>
Bis er den Uebermut der &#x017F;tolzen Ma&#x0364;nner be&#x017F;trafet.</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach &#x017F;ie; und freudig ent&#x017F;prang die Fu&#x0364;r&#x017F;tin dem Lager,<lb/>
Und umarmte die Alte, und Thra&#x0364;nen um&#x017F;tro&#x0364;mten ihr Antliz.<lb/>
Weinend begann &#x017F;ie jezo, und &#x017F;prach die geflu&#x0364;gelten Worte:</p><lb/>
        <p>Liebes Mu&#x0364;tterchen, &#x017F;age mir doch die lautere Wahrheit! <note place="right">35</note><lb/>
I&#x017F;t er denn wu&#x0364;rklich zu Hau&#x017F;e gekommen, wie du erza&#x0364;hle&#x017F;t;<lb/>
O wie hat er den Kampf mit den &#x017F;chamlo&#x017F;en Freiern vollendet,<lb/>
Er allein mit &#x017F;o vielen, die hier &#x017F;ich ta&#x0364;glich ergo&#x0364;zten?</p><lb/>
        <p>Ihr antwortete drauf die Pflegerin Euru&#x0364;kleia:<lb/>
Weder ge&#x017F;ehn hab' ichs, noch &#x017F;on&#x017F;t erfahren; ich ho&#x0364;rte <note place="right">40</note><lb/>
Bloß der Er&#x017F;chlagnen Gea&#x0364;chz. Denn hinten in un&#x017F;erer Wohnung<lb/>
Saßen wir alle voll Ang&#x017F;t, bei fe&#x017F;tverriegelten Thu&#x0364;ren;<lb/>
Bis mich endlich dein Sohn Ta&#x0364;lemachos aus dem Gemache<lb/>
Rief, denn die&#x017F;en hatte &#x017F;ein Vater ge&#x017F;andt, mich zu rufen.<lb/>
Und nun fand ich Odu&#x0364;ßeus, umringt von er&#x017F;chlagenen Leichen, <note place="right">45</note><lb/>
Stehn, die hochgeha&#x0364;uft, das &#x017F;cho&#x0364;ngepfla&#x017F;terte E&#x017F;trich<lb/>
Weit bedeckten. O ha&#x0364;tte&#x017F;t du &#x017F;elb&#x017F;t die Freude ge&#x017F;ehen,<lb/>
Als er mit Blut und Staube be&#x017F;udelt &#x017F;tand, wie ein Lo&#x0364;we!<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[436/0442] Oduͤßee. Haͤtte mir eine der andern, ſo viel auch Weiber mir dienen, Solch ein Maͤhrchen verkuͤndet, und mich vom Schlummer erwecket; Fuͤrchterlich haͤtt' ich ſie gleich, die unwillkommene Botin, Heimgeſandt in den Saal! Dich rettet diesmal dein Alter! Ihr antwortete drauf die Pflegerin Euruͤkleia: Liebe Tochter, ich ſpotte ja nicht! Wahrhaftig, Oduͤßeus Iſt gekommen, und wieder zu Hauſe, wie ich dir ſage! Jener Fremdling, den alle ſo ſchaͤndlich im Saale verhoͤhnten! Und Taͤlemachos wußte ſchon lange, daß er daheim ſei; Aber mit weiſem Bedacht verſchwieg er des Vaters Geheimniß, Bis er den Uebermut der ſtolzen Maͤnner beſtrafet. 25 30 Alſo ſprach ſie; und freudig entſprang die Fuͤrſtin dem Lager, Und umarmte die Alte, und Thraͤnen umſtroͤmten ihr Antliz. Weinend begann ſie jezo, und ſprach die gefluͤgelten Worte: Liebes Muͤtterchen, ſage mir doch die lautere Wahrheit! Iſt er denn wuͤrklich zu Hauſe gekommen, wie du erzaͤhleſt; O wie hat er den Kampf mit den ſchamloſen Freiern vollendet, Er allein mit ſo vielen, die hier ſich taͤglich ergoͤzten? 35 Ihr antwortete drauf die Pflegerin Euruͤkleia: Weder geſehn hab' ichs, noch ſonſt erfahren; ich hoͤrte Bloß der Erſchlagnen Geaͤchz. Denn hinten in unſerer Wohnung Saßen wir alle voll Angſt, bei feſtverriegelten Thuͤren; Bis mich endlich dein Sohn Taͤlemachos aus dem Gemache Rief, denn dieſen hatte ſein Vater geſandt, mich zu rufen. Und nun fand ich Oduͤßeus, umringt von erſchlagenen Leichen, Stehn, die hochgehaͤuft, das ſchoͤngepflaſterte Eſtrich Weit bedeckten. O haͤtteſt du ſelbſt die Freude geſehen, Als er mit Blut und Staube beſudelt ſtand, wie ein Loͤwe! 40 45

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/442
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/442>, abgerufen am 23.11.2024.