Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Einundzwanzigster Gesang.
Dieser nahm den Bogen und schnellen Pfeil von der Erde,
Stellte sich drauf an die Schwelle des Saals, und versuchte den Bogen.
Aber er spannt' ihn nicht; die zarten Hände des Sehers 150
Wurden im Aufziehn laß. Da sprach er zu der Versammlung:

Freunde, ich spann' ihn nicht; ihn nehm' ein anderer jezo!
Viele der Edeln im Volk wird dieser Bogen des Athems
Und der Seele berauben; denn das ist tausendmal beßer,
Sterben, als lebend den Zweck zu verfehlen, um den wir uns immer 155
Hier im Hause versammlen, und harren von Tage zu Tage!
Jezo hofft wohl mancher in seinem Herzen, und wünscht sich
Pänelopeia zum Weib', Odüßeus edle Gemahlin.
Aber wird er einmal den Bogen prüfen und ansehn;
O dann such' er sich nur von Achaia's lieblichen Töchtern 160
Eine andre, und werbe mit Brautgeschenken; doch diese
Nehme den Mann, der das meiste geschenkt, und dem sie bestimmt ward.

Also sprach Leiodäs, und stellte den Bogen zur Erden,
Hingelehnt an die feste mit Kunst gebildete Pforte,
Lehnte den schnellen Pfeil an des Bogens zierliche Krümmung, 165
Ging, und sezte sich wieder auf seinen verlaßenen Seßel.
Aber Antinoos schalt, und sprach die geflügelten Worte:

Welche Rede, Leiodäs, ist deinen Lippen entflohen!
Welche schreckliche Drohung! Ich ärgere mich, es zu hören!
Viele der Edeln im Volk soll dieser Bogen des Athems 170
Und der Seele berauben, weil du nicht vermagst ihn zu spannen?
Dich gebar nun freilich die theure Mutter nicht dazu,
Daß du mit Pfeil und Bogen dir Ruhm bei den Menschen erwürbest;
Aber es sind, ihn zu spannen, noch andere mutige Freier!

Also sprach er, und rief dem Ziegenhirten Melantheus: 175

Einundzwanzigſter Geſang.
Dieſer nahm den Bogen und ſchnellen Pfeil von der Erde,
Stellte ſich drauf an die Schwelle des Saals, und verſuchte den Bogen.
Aber er ſpannt' ihn nicht; die zarten Haͤnde des Sehers 150
Wurden im Aufziehn laß. Da ſprach er zu der Verſammlung:

Freunde, ich ſpann' ihn nicht; ihn nehm' ein anderer jezo!
Viele der Edeln im Volk wird dieſer Bogen des Athems
Und der Seele berauben; denn das iſt tauſendmal beßer,
Sterben, als lebend den Zweck zu verfehlen, um den wir uns immer 155
Hier im Hauſe verſammlen, und harren von Tage zu Tage!
Jezo hofft wohl mancher in ſeinem Herzen, und wuͤnſcht ſich
Paͤnelopeia zum Weib', Oduͤßeus edle Gemahlin.
Aber wird er einmal den Bogen pruͤfen und anſehn;
O dann ſuch' er ſich nur von Achaia's lieblichen Toͤchtern 160
Eine andre, und werbe mit Brautgeſchenken; doch dieſe
Nehme den Mann, der das meiſte geſchenkt, und dem ſie beſtimmt ward.

Alſo ſprach Leiodaͤs, und ſtellte den Bogen zur Erden,
Hingelehnt an die feſte mit Kunſt gebildete Pforte,
Lehnte den ſchnellen Pfeil an des Bogens zierliche Kruͤmmung, 165
Ging, und ſezte ſich wieder auf ſeinen verlaßenen Seßel.
Aber Antinoos ſchalt, und ſprach die gefluͤgelten Worte:

Welche Rede, Leiodaͤs, iſt deinen Lippen entflohen!
Welche ſchreckliche Drohung! Ich aͤrgere mich, es zu hoͤren!
Viele der Edeln im Volk ſoll dieſer Bogen des Athems 170
Und der Seele berauben, weil du nicht vermagſt ihn zu ſpannen?
Dich gebar nun freilich die theure Mutter nicht dazu,
Daß du mit Pfeil und Bogen dir Ruhm bei den Menſchen erwuͤrbeſt;
Aber es ſind, ihn zu ſpannen, noch andere mutige Freier!

Alſo ſprach er, und rief dem Ziegenhirten Melantheus: 175

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0411" n="405"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Einundzwanzig&#x017F;ter Ge&#x017F;ang.</hi></fw><lb/>
Die&#x017F;er nahm den Bogen und &#x017F;chnellen Pfeil von der Erde,<lb/>
Stellte &#x017F;ich drauf an die Schwelle des Saals, und ver&#x017F;uchte den Bogen.<lb/>
Aber er &#x017F;pannt' ihn nicht; die zarten Ha&#x0364;nde des Sehers <note place="right">150</note><lb/>
Wurden im Aufziehn laß. Da &#x017F;prach er zu der Ver&#x017F;ammlung:</p><lb/>
        <p>Freunde, ich &#x017F;pann' ihn nicht; ihn nehm' ein anderer jezo!<lb/>
Viele der Edeln im Volk wird die&#x017F;er Bogen des Athems<lb/>
Und der Seele berauben; denn das i&#x017F;t tau&#x017F;endmal beßer,<lb/>
Sterben, als lebend den Zweck zu verfehlen, um den wir uns immer <note place="right">155</note><lb/>
Hier im Hau&#x017F;e ver&#x017F;ammlen, und harren von Tage zu Tage!<lb/>
Jezo hofft wohl mancher in &#x017F;einem Herzen, und wu&#x0364;n&#x017F;cht &#x017F;ich<lb/>
Pa&#x0364;nelopeia zum Weib', Odu&#x0364;ßeus edle Gemahlin.<lb/>
Aber wird er einmal den Bogen pru&#x0364;fen und an&#x017F;ehn;<lb/>
O dann &#x017F;uch' er &#x017F;ich nur von Achaia's lieblichen To&#x0364;chtern <note place="right">160</note><lb/>
Eine andre, und werbe mit Brautge&#x017F;chenken; doch die&#x017F;e<lb/>
Nehme den Mann, der das mei&#x017F;te ge&#x017F;chenkt, und dem &#x017F;ie be&#x017F;timmt ward.</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach Leioda&#x0364;s, und &#x017F;tellte den Bogen zur Erden,<lb/>
Hingelehnt an die fe&#x017F;te mit Kun&#x017F;t gebildete Pforte,<lb/>
Lehnte den &#x017F;chnellen Pfeil an des Bogens zierliche Kru&#x0364;mmung, <note place="right">165</note><lb/>
Ging, und &#x017F;ezte &#x017F;ich wieder auf &#x017F;einen verlaßenen Seßel.<lb/>
Aber Antinoos &#x017F;chalt, und &#x017F;prach die geflu&#x0364;gelten Worte:</p><lb/>
        <p>Welche Rede, Leioda&#x0364;s, i&#x017F;t deinen Lippen entflohen!<lb/>
Welche &#x017F;chreckliche Drohung! Ich a&#x0364;rgere mich, es zu ho&#x0364;ren!<lb/>
Viele der Edeln im Volk &#x017F;oll die&#x017F;er Bogen des Athems <note place="right">170</note><lb/>
Und der Seele berauben, weil du nicht vermag&#x017F;t ihn zu &#x017F;pannen?<lb/>
Dich gebar nun freilich die theure Mutter nicht dazu,<lb/>
Daß du mit Pfeil und Bogen dir Ruhm bei den Men&#x017F;chen erwu&#x0364;rbe&#x017F;t;<lb/>
Aber es &#x017F;ind, ihn zu &#x017F;pannen, noch andere mutige Freier!</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o &#x017F;prach er, und rief dem Ziegenhirten Melantheus: <note place="right">175</note><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[405/0411] Einundzwanzigſter Geſang. Dieſer nahm den Bogen und ſchnellen Pfeil von der Erde, Stellte ſich drauf an die Schwelle des Saals, und verſuchte den Bogen. Aber er ſpannt' ihn nicht; die zarten Haͤnde des Sehers Wurden im Aufziehn laß. Da ſprach er zu der Verſammlung: 150 Freunde, ich ſpann' ihn nicht; ihn nehm' ein anderer jezo! Viele der Edeln im Volk wird dieſer Bogen des Athems Und der Seele berauben; denn das iſt tauſendmal beßer, Sterben, als lebend den Zweck zu verfehlen, um den wir uns immer Hier im Hauſe verſammlen, und harren von Tage zu Tage! Jezo hofft wohl mancher in ſeinem Herzen, und wuͤnſcht ſich Paͤnelopeia zum Weib', Oduͤßeus edle Gemahlin. Aber wird er einmal den Bogen pruͤfen und anſehn; O dann ſuch' er ſich nur von Achaia's lieblichen Toͤchtern Eine andre, und werbe mit Brautgeſchenken; doch dieſe Nehme den Mann, der das meiſte geſchenkt, und dem ſie beſtimmt ward. 155 160 Alſo ſprach Leiodaͤs, und ſtellte den Bogen zur Erden, Hingelehnt an die feſte mit Kunſt gebildete Pforte, Lehnte den ſchnellen Pfeil an des Bogens zierliche Kruͤmmung, Ging, und ſezte ſich wieder auf ſeinen verlaßenen Seßel. Aber Antinoos ſchalt, und ſprach die gefluͤgelten Worte: 165 Welche Rede, Leiodaͤs, iſt deinen Lippen entflohen! Welche ſchreckliche Drohung! Ich aͤrgere mich, es zu hoͤren! Viele der Edeln im Volk ſoll dieſer Bogen des Athems Und der Seele berauben, weil du nicht vermagſt ihn zu ſpannen? Dich gebar nun freilich die theure Mutter nicht dazu, Daß du mit Pfeil und Bogen dir Ruhm bei den Menſchen erwuͤrbeſt; Aber es ſind, ihn zu ſpannen, noch andere mutige Freier! 170 Alſo ſprach er, und rief dem Ziegenhirten Melantheus: 175

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/411
Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/411>, abgerufen am 18.05.2024.