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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.

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Odüßee.
Eher weichen wir nicht zu den Unsrigen oder zu andern,
Ehe sie aus den Achaiern sich einen Bräutigam wählet!

Und der verständige Jüngling Tälemachos sagte dagegen: 130
Ganz unmöglich ist mirs, Antinoos, die zu verstoßen,
Die mich gebahr und erzog; mein Vater leb' in der Fremde,
Oder sei todt! Schwer würde mir auch des Gutes Erstatung
An Ikarios sein, verstieß' ich selber die Mutter.
Denn hart würde gewiß ihr Vater mich drücken, und härter 135
Noch die göttliche Rache, wenn von uns scheidend die Mutter
Mich den grausen Erinnen verfluchte! dann wär' ich ein Abscheu V. 137.
Aller Menschen! -- O nein! ich kann ihr das nicht gebieten!
Haltet ihr euch dadurch in eurem Herzen beleidigt,
Nun so geht aus dem Haus', und sucht euch andere Mähler! 140
Zehret von eurem Gut, und laßt die Bewirtungen umgehn!
Aber wenn ihr es so bequemer und lieblicher findet,
Eines Mannes Hab' ohn alle Vergeltung zu freßen;
Schlingt sie hinab! Ich werde die ewigen Götter anflehn,
Ob euch nicht endlich einmal Zeus eure Thaten bezahle, 145
Daß ihr in unserm Haus' auch ohne Vergeltung dahinstürzt!

Also sprach er, da sandte der Gott weithallender Donner
Ihm zween Adler herab vom hohen Gipfel des Berges.
Anfangs schwebten sie sanft einher im Hauche des Windes,
Einer nahe dem andern, mit ausgebreiteten Schwingen; 150
Jezo über der Mitte der stimmenvollen Versammlung,
Flogen sie wirbelnd herum, und schlugen stark mit den Schwingen,
Schauten auf aller Scheitel herab, und drohten Verderben,
Und zerkrazten sich selbst mit den Klauen die Wangen und Hälse,

V. 137. Erinnen, Furien.

Oduͤßee.
Eher weichen wir nicht zu den Unſrigen oder zu andern,
Ehe ſie aus den Achaiern ſich einen Braͤutigam waͤhlet!

Und der verſtaͤndige Juͤngling Taͤlemachos ſagte dagegen: 130
Ganz unmoͤglich iſt mirs, Antinoos, die zu verſtoßen,
Die mich gebahr und erzog; mein Vater leb' in der Fremde,
Oder ſei todt! Schwer wuͤrde mir auch des Gutes Erſtatung
An Ikarios ſein, verſtieß' ich ſelber die Mutter.
Denn hart wuͤrde gewiß ihr Vater mich druͤcken, und haͤrter 135
Noch die goͤttliche Rache, wenn von uns ſcheidend die Mutter
Mich den grauſen Erinnen verfluchte! dann waͤr' ich ein Abſcheu V. 137.
Aller Menſchen! — O nein! ich kann ihr das nicht gebieten!
Haltet ihr euch dadurch in eurem Herzen beleidigt,
Nun ſo geht aus dem Hauſ', und ſucht euch andere Maͤhler! 140
Zehret von eurem Gut, und laßt die Bewirtungen umgehn!
Aber wenn ihr es ſo bequemer und lieblicher findet,
Eines Mannes Hab' ohn alle Vergeltung zu freßen;
Schlingt ſie hinab! Ich werde die ewigen Goͤtter anflehn,
Ob euch nicht endlich einmal Zeus eure Thaten bezahle, 145
Daß ihr in unſerm Hauſ' auch ohne Vergeltung dahinſtuͤrzt!

Alſo ſprach er, da ſandte der Gott weithallender Donner
Ihm zween Adler herab vom hohen Gipfel des Berges.
Anfangs ſchwebten ſie ſanft einher im Hauche des Windes,
Einer nahe dem andern, mit ausgebreiteten Schwingen; 150
Jezo uͤber der Mitte der ſtimmenvollen Verſammlung,
Flogen ſie wirbelnd herum, und ſchlugen ſtark mit den Schwingen,
Schauten auf aller Scheitel herab, und drohten Verderben,
Und zerkrazten ſich ſelbſt mit den Klauen die Wangen und Haͤlſe,

V. 137. Erinnen, Furien.
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[32/0038] Oduͤßee. Eher weichen wir nicht zu den Unſrigen oder zu andern, Ehe ſie aus den Achaiern ſich einen Braͤutigam waͤhlet! Und der verſtaͤndige Juͤngling Taͤlemachos ſagte dagegen: Ganz unmoͤglich iſt mirs, Antinoos, die zu verſtoßen, Die mich gebahr und erzog; mein Vater leb' in der Fremde, Oder ſei todt! Schwer wuͤrde mir auch des Gutes Erſtatung An Ikarios ſein, verſtieß' ich ſelber die Mutter. Denn hart wuͤrde gewiß ihr Vater mich druͤcken, und haͤrter Noch die goͤttliche Rache, wenn von uns ſcheidend die Mutter Mich den grauſen Erinnen verfluchte! dann waͤr' ich ein Abſcheu V. 137. Aller Menſchen! — O nein! ich kann ihr das nicht gebieten! Haltet ihr euch dadurch in eurem Herzen beleidigt, Nun ſo geht aus dem Hauſ', und ſucht euch andere Maͤhler! Zehret von eurem Gut, und laßt die Bewirtungen umgehn! Aber wenn ihr es ſo bequemer und lieblicher findet, Eines Mannes Hab' ohn alle Vergeltung zu freßen; Schlingt ſie hinab! Ich werde die ewigen Goͤtter anflehn, Ob euch nicht endlich einmal Zeus eure Thaten bezahle, Daß ihr in unſerm Hauſ' auch ohne Vergeltung dahinſtuͤrzt! 130 135 140 145 Alſo ſprach er, da ſandte der Gott weithallender Donner Ihm zween Adler herab vom hohen Gipfel des Berges. Anfangs ſchwebten ſie ſanft einher im Hauche des Windes, Einer nahe dem andern, mit ausgebreiteten Schwingen; Jezo uͤber der Mitte der ſtimmenvollen Verſammlung, Flogen ſie wirbelnd herum, und ſchlugen ſtark mit den Schwingen, Schauten auf aller Scheitel herab, und drohten Verderben, Und zerkrazten ſich ſelbſt mit den Klauen die Wangen und Haͤlſe, 150 V. 137. Erinnen, Furien.

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Zitationshilfe: Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/38>, abgerufen am 29.03.2024.