Wenn man so vieles erduldet, so viele Länder durchirrt ist. 400 Jezo will ich dir das verkündigen, was du mich fragtest:
Eine der Inseln im Meer heißt Süria, wenn du sie kennest, V. 402. Ueber Ortügia hin, wo die Sonnenwende zu sehn ist. Groß ist diese nicht sehr von Umfang, aber doch fruchtbar, Reich an Schafen und Rindern, an Wein und schönem Getreide. 405 Nimmer besucht der Hunger, und nimmer eine der andern Schrecklichen Seuchen das Volk, die die armen Sterblichen hinrafft. Sondern wann in der Stadt die Menschen das Alter erreichen, Kömmt die Freundin der Pfeil' und der Gott des silbernen Bogens, Welche sie unversehens mit sanften Geschoßen erlegen. 410 Alda sind zwo Städte, die zwiefach alles getheilet; Und von diesen beiden war einst mein Vater Beherscher, Ktäsios, Ormenos Sohn, ein Bild der unsterblichen Götter.
Einst besuchten uns dort Föniker, berühmt in der Seefahrt Und Erzschinder, und führten im Schiff' unzähliges Spielzeug. 415 Aber im Hause des Vaters war eine fönikische Sklavin, Schöngebildet und groß und klug in künstlicher Arbeit. Diese verführten mit List die ränkegeübten Föniker. Einer von ihnen pflog, da sie wusch, beim schwärzlichen Schiffe, Heimlicher Liebe mit ihr; die das Herz der biegsamen Weiber 420 Ganz in die Irre führt, wenn eine die Tugend auch ehret. Dieser fragte darauf, wer sie wär', und von wannen sie käme;
V. 402. Süria, vielleicht die Landzunge, worauf Sürakus steht, die damals eine Insel oder Halbinsel war, oder von Homer, der diese Gegend nur dunkel kannte, dafür gehalten ward. Die Insel Ortügia war durch Artemis Geburt unter den Griechen berühmt. Hier hatten die Föniker vielleicht einen Sonnenweiser, der durch den Schatten einer Seule die Sonnenwenden und Tagegleichen bemerkte.
Oduͤßee.
Wenn man ſo vieles erduldet, ſo viele Laͤnder durchirrt iſt. 400 Jezo will ich dir das verkuͤndigen, was du mich fragteſt:
Eine der Inſeln im Meer heißt Suͤria, wenn du ſie kenneſt, V. 402. Ueber Ortuͤgia hin, wo die Sonnenwende zu ſehn iſt. Groß iſt dieſe nicht ſehr von Umfang, aber doch fruchtbar, Reich an Schafen und Rindern, an Wein und ſchoͤnem Getreide. 405 Nimmer beſucht der Hunger, und nimmer eine der andern Schrecklichen Seuchen das Volk, die die armen Sterblichen hinrafft. Sondern wann in der Stadt die Menſchen das Alter erreichen, Koͤmmt die Freundin der Pfeil' und der Gott des ſilbernen Bogens, Welche ſie unverſehens mit ſanften Geſchoßen erlegen. 410 Alda ſind zwo Staͤdte, die zwiefach alles getheilet; Und von dieſen beiden war einſt mein Vater Beherſcher, Ktaͤſios, Ormenos Sohn, ein Bild der unſterblichen Goͤtter.
Einſt beſuchten uns dort Foͤniker, beruͤhmt in der Seefahrt Und Erzſchinder, und fuͤhrten im Schiff' unzaͤhliges Spielzeug. 415 Aber im Hauſe des Vaters war eine foͤnikiſche Sklavin, Schoͤngebildet und groß und klug in kuͤnſtlicher Arbeit. Dieſe verfuͤhrten mit Liſt die raͤnkegeuͤbten Foͤniker. Einer von ihnen pflog, da ſie wuſch, beim ſchwaͤrzlichen Schiffe, Heimlicher Liebe mit ihr; die das Herz der biegſamen Weiber 420 Ganz in die Irre fuͤhrt, wenn eine die Tugend auch ehret. Dieſer fragte darauf, wer ſie waͤr', und von wannen ſie kaͤme;
V. 402. Suͤria, vielleicht die Landzunge, worauf Suͤrakus ſteht, die damals eine Inſel oder Halbinſel war, oder von Homer, der dieſe Gegend nur dunkel kannte, dafuͤr gehalten ward. Die Inſel Ortuͤgia war durch Artemis Geburt unter den Griechen beruͤhmt. Hier hatten die Foͤniker vielleicht einen Sonnenweiſer, der durch den Schatten einer Seule die Sonnenwenden und Tagegleichen bemerkte.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0304"n="298"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Oduͤßee.</hi></fw><lb/>
Wenn man ſo vieles erduldet, ſo viele Laͤnder durchirrt iſt. <noteplace="right">400</note><lb/>
Jezo will ich dir das verkuͤndigen, was du mich fragteſt:</p><lb/><p>Eine der Inſeln im Meer heißt Suͤria, wenn du ſie kenneſt, <noteplace="foot"n="V. 402.">Suͤria, vielleicht die Landzunge, worauf Suͤrakus ſteht, die damals<lb/>
eine Inſel oder Halbinſel war, oder von Homer, der dieſe Gegend nur dunkel kannte,<lb/>
dafuͤr gehalten ward. Die Inſel Ortuͤgia war durch Artemis Geburt unter den<lb/>
Griechen beruͤhmt. Hier hatten die Foͤniker vielleicht einen Sonnenweiſer, der<lb/>
durch den Schatten einer Seule die Sonnenwenden und Tagegleichen bemerkte.</note><lb/>
Ueber Ortuͤgia hin, wo die Sonnenwende zu ſehn iſt.<lb/>
Groß iſt dieſe nicht ſehr von Umfang, aber doch fruchtbar,<lb/>
Reich an Schafen und Rindern, an Wein und ſchoͤnem Getreide. <noteplace="right">405</note><lb/>
Nimmer beſucht der Hunger, und nimmer eine der andern<lb/>
Schrecklichen Seuchen das Volk, die die armen Sterblichen hinrafft.<lb/>
Sondern wann in der Stadt die Menſchen das Alter erreichen,<lb/>
Koͤmmt die Freundin der Pfeil' und der Gott des ſilbernen Bogens,<lb/>
Welche ſie unverſehens mit ſanften Geſchoßen erlegen. <noteplace="right">410</note><lb/>
Alda ſind zwo Staͤdte, die zwiefach alles getheilet;<lb/>
Und von dieſen beiden war einſt mein Vater Beherſcher,<lb/>
Ktaͤſios, Ormenos Sohn, ein Bild der unſterblichen Goͤtter.</p><lb/><p>Einſt beſuchten uns dort Foͤniker, beruͤhmt in der Seefahrt<lb/>
Und Erzſchinder, und fuͤhrten im Schiff' unzaͤhliges Spielzeug. <noteplace="right">415</note><lb/>
Aber im Hauſe des Vaters war eine foͤnikiſche Sklavin,<lb/>
Schoͤngebildet und groß und klug in kuͤnſtlicher Arbeit.<lb/>
Dieſe verfuͤhrten mit Liſt die raͤnkegeuͤbten Foͤniker.<lb/>
Einer von ihnen pflog, da ſie wuſch, beim ſchwaͤrzlichen Schiffe,<lb/>
Heimlicher Liebe mit ihr; die das Herz der biegſamen Weiber <noteplace="right">420</note><lb/>
Ganz in die Irre fuͤhrt, wenn eine die Tugend auch ehret.<lb/>
Dieſer fragte darauf, wer ſie waͤr', und von wannen ſie kaͤme;<lb/></p></div></body></text></TEI>
[298/0304]
Oduͤßee.
Wenn man ſo vieles erduldet, ſo viele Laͤnder durchirrt iſt.
Jezo will ich dir das verkuͤndigen, was du mich fragteſt:
400
Eine der Inſeln im Meer heißt Suͤria, wenn du ſie kenneſt, V. 402.
Ueber Ortuͤgia hin, wo die Sonnenwende zu ſehn iſt.
Groß iſt dieſe nicht ſehr von Umfang, aber doch fruchtbar,
Reich an Schafen und Rindern, an Wein und ſchoͤnem Getreide.
Nimmer beſucht der Hunger, und nimmer eine der andern
Schrecklichen Seuchen das Volk, die die armen Sterblichen hinrafft.
Sondern wann in der Stadt die Menſchen das Alter erreichen,
Koͤmmt die Freundin der Pfeil' und der Gott des ſilbernen Bogens,
Welche ſie unverſehens mit ſanften Geſchoßen erlegen.
Alda ſind zwo Staͤdte, die zwiefach alles getheilet;
Und von dieſen beiden war einſt mein Vater Beherſcher,
Ktaͤſios, Ormenos Sohn, ein Bild der unſterblichen Goͤtter.
405
410
Einſt beſuchten uns dort Foͤniker, beruͤhmt in der Seefahrt
Und Erzſchinder, und fuͤhrten im Schiff' unzaͤhliges Spielzeug.
Aber im Hauſe des Vaters war eine foͤnikiſche Sklavin,
Schoͤngebildet und groß und klug in kuͤnſtlicher Arbeit.
Dieſe verfuͤhrten mit Liſt die raͤnkegeuͤbten Foͤniker.
Einer von ihnen pflog, da ſie wuſch, beim ſchwaͤrzlichen Schiffe,
Heimlicher Liebe mit ihr; die das Herz der biegſamen Weiber
Ganz in die Irre fuͤhrt, wenn eine die Tugend auch ehret.
Dieſer fragte darauf, wer ſie waͤr', und von wannen ſie kaͤme;
415
420
V. 402. Suͤria, vielleicht die Landzunge, worauf Suͤrakus ſteht, die damals
eine Inſel oder Halbinſel war, oder von Homer, der dieſe Gegend nur dunkel kannte,
dafuͤr gehalten ward. Die Inſel Ortuͤgia war durch Artemis Geburt unter den
Griechen beruͤhmt. Hier hatten die Foͤniker vielleicht einen Sonnenweiſer, der
durch den Schatten einer Seule die Sonnenwenden und Tagegleichen bemerkte.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/304>, abgerufen am 22.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.