Sicher, von deinem Haupte den Tag des Fluches zu wenden. Alle verderblichen Künste der Zauberin will ich dir nennen. Weinmus rührt sie dir ein, und mischt ihr Gift in die Speise: 290 Dennoch gelingt es ihr nicht, dich umzuschaffen; die Jugend Dieser heilsamen Pflanze verhindert sie. Höre nun weiter. Wann dich Kirkä darauf mit der langen Rute berühret, Siehe dann reiße du schnell das geschliffene Schwert von der Hüfte, Spring auf die Zauberin los, und drohe sie gleich zu erwürgen. 295 Diese wird in der Angst zu ihrem Lager dich rufen; Und nun weigre dich nicht, und besteige das Lager der Göttin, Daß sie deine Gefährten erlös', und dich selber bewirte. Aber sie schwöre zuvor der Seligen großen Eidschwur, Daß sie bei sich nichts anders zu deinem Schaden beschloßen; 300 Daß sie dir Waffenlosen nicht raube Tugend und Stärke.
Also sprach Hermeias, und gab mir die heilsame Pflanze, Die er dem Boden entriß, und zeigte mir ihre Natur an: Ihre Wurzel war schwarz, und milchweiß blühte die Blume; Molü wird sie genannt von den Göttern. Sterblichen Menschen 305 Ist sie schwer zu graben; doch alles vermögen die Götter.
Und der Argosbesieger enteilte zum hohen Olümpos Durch die waldichte Insel; ich ging zum Hause der Kirkä Hin, und viele Gedanken bewegten des Gehenden Seele. Und ich stand an der Pforte der schöngelocketen Göttin, 310 Stand und rief; und die Göttin vernahm des Rufenden Stimme, Kam sogleich, und öffnete mir die stralende Pforte, Nöthigte mich herein; und ich folgte mit traurigem Herzen. Hierauf führte sie mich zu ihrem silberbeschlagnen Schönen prächtigen Thron, mit füßestüzendem Schemel, 315
Oduͤßee.
Sicher, von deinem Haupte den Tag des Fluches zu wenden. Alle verderblichen Kuͤnſte der Zauberin will ich dir nennen. Weinmus ruͤhrt ſie dir ein, und miſcht ihr Gift in die Speiſe: 290 Dennoch gelingt es ihr nicht, dich umzuſchaffen; die Jugend Dieſer heilſamen Pflanze verhindert ſie. Hoͤre nun weiter. Wann dich Kirkaͤ darauf mit der langen Rute beruͤhret, Siehe dann reiße du ſchnell das geſchliffene Schwert von der Huͤfte, Spring auf die Zauberin los, und drohe ſie gleich zu erwuͤrgen. 295 Dieſe wird in der Angſt zu ihrem Lager dich rufen; Und nun weigre dich nicht, und beſteige das Lager der Goͤttin, Daß ſie deine Gefaͤhrten erloͤſ', und dich ſelber bewirte. Aber ſie ſchwoͤre zuvor der Seligen großen Eidſchwur, Daß ſie bei ſich nichts anders zu deinem Schaden beſchloßen; 300 Daß ſie dir Waffenloſen nicht raube Tugend und Staͤrke.
Alſo ſprach Hermeias, und gab mir die heilſame Pflanze, Die er dem Boden entriß, und zeigte mir ihre Natur an: Ihre Wurzel war ſchwarz, und milchweiß bluͤhte die Blume; Moluͤ wird ſie genannt von den Goͤttern. Sterblichen Menſchen 305 Iſt ſie ſchwer zu graben; doch alles vermoͤgen die Goͤtter.
Und der Argosbeſieger enteilte zum hohen Oluͤmpos Durch die waldichte Inſel; ich ging zum Hauſe der Kirkaͤ Hin, und viele Gedanken bewegten des Gehenden Seele. Und ich ſtand an der Pforte der ſchoͤngelocketen Goͤttin, 310 Stand und rief; und die Goͤttin vernahm des Rufenden Stimme, Kam ſogleich, und oͤffnete mir die ſtralende Pforte, Noͤthigte mich herein; und ich folgte mit traurigem Herzen. Hierauf fuͤhrte ſie mich zu ihrem ſilberbeſchlagnen Schoͤnen praͤchtigen Thron, mit fuͤßeſtuͤzendem Schemel, 315
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0200"n="194"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Oduͤßee.</hi></fw><lb/>
Sicher, von deinem Haupte den Tag des Fluches zu wenden.<lb/>
Alle verderblichen Kuͤnſte der Zauberin will ich dir nennen.<lb/>
Weinmus ruͤhrt ſie dir ein, und miſcht ihr Gift in die Speiſe: <noteplace="right">290</note><lb/>
Dennoch gelingt es ihr nicht, dich umzuſchaffen; die Jugend<lb/>
Dieſer heilſamen Pflanze verhindert ſie. Hoͤre nun weiter.<lb/>
Wann dich Kirkaͤ darauf mit der langen Rute beruͤhret,<lb/>
Siehe dann reiße du ſchnell das geſchliffene Schwert von der Huͤfte,<lb/>
Spring auf die Zauberin los, und drohe ſie gleich zu erwuͤrgen. <noteplace="right">295</note><lb/>
Dieſe wird in der Angſt zu ihrem Lager dich rufen;<lb/>
Und nun weigre dich nicht, und beſteige das Lager der Goͤttin,<lb/>
Daß ſie deine Gefaͤhrten erloͤſ', und dich ſelber bewirte.<lb/>
Aber ſie ſchwoͤre zuvor der Seligen großen Eidſchwur,<lb/>
Daß ſie bei ſich nichts anders zu deinem Schaden beſchloßen; <noteplace="right">300</note><lb/>
Daß ſie dir Waffenloſen nicht raube Tugend und Staͤrke.</p><lb/><p>Alſo ſprach Hermeias, und gab mir die heilſame Pflanze,<lb/>
Die er dem Boden entriß, und zeigte mir ihre Natur an:<lb/>
Ihre Wurzel war ſchwarz, und milchweiß bluͤhte die Blume;<lb/>
Moluͤ wird ſie genannt von den Goͤttern. Sterblichen Menſchen <noteplace="right">305</note><lb/>
Iſt ſie ſchwer zu graben; doch alles vermoͤgen die Goͤtter.</p><lb/><p>Und der Argosbeſieger enteilte zum hohen Oluͤmpos<lb/>
Durch die waldichte Inſel; ich ging zum Hauſe der Kirkaͤ<lb/>
Hin, und viele Gedanken bewegten des Gehenden Seele.<lb/>
Und ich ſtand an der Pforte der ſchoͤngelocketen Goͤttin, <noteplace="right">310</note><lb/>
Stand und rief; und die Goͤttin vernahm des Rufenden Stimme,<lb/>
Kam ſogleich, und oͤffnete mir die ſtralende Pforte,<lb/>
Noͤthigte mich herein; und ich folgte mit traurigem Herzen.<lb/>
Hierauf fuͤhrte ſie mich zu ihrem ſilberbeſchlagnen<lb/>
Schoͤnen praͤchtigen Thron, mit fuͤßeſtuͤzendem Schemel, <noteplace="right">315</note><lb/></p></div></body></text></TEI>
[194/0200]
Oduͤßee.
Sicher, von deinem Haupte den Tag des Fluches zu wenden.
Alle verderblichen Kuͤnſte der Zauberin will ich dir nennen.
Weinmus ruͤhrt ſie dir ein, und miſcht ihr Gift in die Speiſe:
Dennoch gelingt es ihr nicht, dich umzuſchaffen; die Jugend
Dieſer heilſamen Pflanze verhindert ſie. Hoͤre nun weiter.
Wann dich Kirkaͤ darauf mit der langen Rute beruͤhret,
Siehe dann reiße du ſchnell das geſchliffene Schwert von der Huͤfte,
Spring auf die Zauberin los, und drohe ſie gleich zu erwuͤrgen.
Dieſe wird in der Angſt zu ihrem Lager dich rufen;
Und nun weigre dich nicht, und beſteige das Lager der Goͤttin,
Daß ſie deine Gefaͤhrten erloͤſ', und dich ſelber bewirte.
Aber ſie ſchwoͤre zuvor der Seligen großen Eidſchwur,
Daß ſie bei ſich nichts anders zu deinem Schaden beſchloßen;
Daß ſie dir Waffenloſen nicht raube Tugend und Staͤrke.
290
295
300
Alſo ſprach Hermeias, und gab mir die heilſame Pflanze,
Die er dem Boden entriß, und zeigte mir ihre Natur an:
Ihre Wurzel war ſchwarz, und milchweiß bluͤhte die Blume;
Moluͤ wird ſie genannt von den Goͤttern. Sterblichen Menſchen
Iſt ſie ſchwer zu graben; doch alles vermoͤgen die Goͤtter.
305
Und der Argosbeſieger enteilte zum hohen Oluͤmpos
Durch die waldichte Inſel; ich ging zum Hauſe der Kirkaͤ
Hin, und viele Gedanken bewegten des Gehenden Seele.
Und ich ſtand an der Pforte der ſchoͤngelocketen Goͤttin,
Stand und rief; und die Goͤttin vernahm des Rufenden Stimme,
Kam ſogleich, und oͤffnete mir die ſtralende Pforte,
Noͤthigte mich herein; und ich folgte mit traurigem Herzen.
Hierauf fuͤhrte ſie mich zu ihrem ſilberbeſchlagnen
Schoͤnen praͤchtigen Thron, mit fuͤßeſtuͤzendem Schemel,
310
315
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/200>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.