Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781.Neunter Gesang. Weinend erhuben wir die Hände zum Vater Kronion,Als wir den Jammer sahn, und starres Entsezen ergriff uns.295 Doch kaum hatte der Riese den großen Wanst sich gestopfet Mit dem Fraße von Menschenfleisch und dem lauteren Milchtrunk; Siehe da lag er im Fels weithingestreckt bei dem Viehe. Jezo stieg der Gedank' in meine zürnende Seele: Näher zu gehn, das geschliffene Schwert von der Hüfte zu reißen,300 Und ihm die Brust zu durchgraben, wo Zwerchfell und Leber sich treffen, Mit nachborender Faust; doch ein andrer Gedanke verdrängt' ihn. Denn so hätt' ich uns selbst dem schrecklichen Tode geopfert: Unsere Hände vermochten ja nicht, von der hohen Pforte Abzuwälzen den mächtigen Fels, den der Riese davorschob.305 Drum erwarteten wir mit Seufzen die heilige Frühe. Als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte, Neben dem Stalle lag des Küklopen gewaltige Keule, Neunter Geſang. Weinend erhuben wir die Haͤnde zum Vater Kronion,Als wir den Jammer ſahn, und ſtarres Entſezen ergriff uns.295 Doch kaum hatte der Rieſe den großen Wanſt ſich geſtopfet Mit dem Fraße von Menſchenfleiſch und dem lauteren Milchtrunk; Siehe da lag er im Fels weithingeſtreckt bei dem Viehe. Jezo ſtieg der Gedank' in meine zuͤrnende Seele: Naͤher zu gehn, das geſchliffene Schwert von der Huͤfte zu reißen,300 Und ihm die Bruſt zu durchgraben, wo Zwerchfell und Leber ſich treffen, Mit nachborender Fauſt; doch ein andrer Gedanke verdraͤngt' ihn. Denn ſo haͤtt' ich uns ſelbſt dem ſchrecklichen Tode geopfert: Unſere Haͤnde vermochten ja nicht, von der hohen Pforte Abzuwaͤlzen den maͤchtigen Fels, den der Rieſe davorſchob.305 Drum erwarteten wir mit Seufzen die heilige Fruͤhe. Als die daͤmmernde Fruͤhe mit Roſenfingern erwachte, Neben dem Stalle lag des Kuͤklopen gewaltige Keule, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0179" n="173"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Neunter Geſang.</hi></fw><lb/> Weinend erhuben wir die Haͤnde zum Vater Kronion,<lb/> Als wir den Jammer ſahn, und ſtarres Entſezen ergriff uns.<note place="right">295</note><lb/> Doch kaum hatte der Rieſe den großen Wanſt ſich geſtopfet<lb/> Mit dem Fraße von Menſchenfleiſch und dem lauteren Milchtrunk;<lb/> Siehe da lag er im Fels weithingeſtreckt bei dem Viehe.<lb/> Jezo ſtieg der Gedank' in meine zuͤrnende Seele:<lb/> Naͤher zu gehn, das geſchliffene Schwert von der Huͤfte zu reißen,<note place="right">300</note><lb/> Und ihm die Bruſt zu durchgraben, wo Zwerchfell und Leber ſich treffen,<lb/> Mit nachborender Fauſt; doch ein andrer Gedanke verdraͤngt' ihn.<lb/> Denn ſo haͤtt' ich uns ſelbſt dem ſchrecklichen Tode geopfert:<lb/> Unſere Haͤnde vermochten ja nicht, von der hohen Pforte<lb/> Abzuwaͤlzen den maͤchtigen Fels, den der Rieſe davorſchob.<note place="right">305</note><lb/> Drum erwarteten wir mit Seufzen die heilige Fruͤhe.</p><lb/> <p>Als die daͤmmernde Fruͤhe mit Roſenfingern erwachte,<lb/> Zuͤndet' er Feuer an, und melkte die Ziegen und Schafe<lb/> Nach der Ordnung, und legte den Muͤttern die Saͤugling' ans Euter.<lb/> Und nachdem er ſeine Geſchaͤft' in Eile verrichtet,<note place="right">310</note><lb/> Packt' er abermal zween, und tiſchte die Stuͤcke zum Schmauſ' auf.<lb/> Nach dem Fruͤhſtuͤck trieb er die feiſte Heerd' aus der Hoͤhle.<lb/> Spielend enthob er die Laſt des großen Spundes, und ſpielend<lb/> Sezt' er ſie vor, als ſezt' er auf ſeinen Koͤcher den Deckel.<lb/> Und nun trieb der Kuͤklop mit gellendem Pfeifen die Heerde<note place="right">315</note><lb/> Auf das Gebirg'. Ich blieb in der Hoͤhle mit tauſend Entwuͤrfen,<lb/> Rache zu uͤben, wenn mir Athaͤnaͤ Huͤlfe gewaͤhrte.<lb/> Aber von allen Entwuͤrfen gefiel mir dieſer am beßten.</p><lb/> <p>Neben dem Stalle lag des Kuͤklopen gewaltige Keule,<lb/> Gruͤn, aus Olivenholze gehaun. Zum kuͤnftigen Stabe<note place="right">320</note><lb/> Dorrte ſie hier an der Wand, und kam uns vor nach dem Anſehn,<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [173/0179]
Neunter Geſang.
Weinend erhuben wir die Haͤnde zum Vater Kronion,
Als wir den Jammer ſahn, und ſtarres Entſezen ergriff uns.
Doch kaum hatte der Rieſe den großen Wanſt ſich geſtopfet
Mit dem Fraße von Menſchenfleiſch und dem lauteren Milchtrunk;
Siehe da lag er im Fels weithingeſtreckt bei dem Viehe.
Jezo ſtieg der Gedank' in meine zuͤrnende Seele:
Naͤher zu gehn, das geſchliffene Schwert von der Huͤfte zu reißen,
Und ihm die Bruſt zu durchgraben, wo Zwerchfell und Leber ſich treffen,
Mit nachborender Fauſt; doch ein andrer Gedanke verdraͤngt' ihn.
Denn ſo haͤtt' ich uns ſelbſt dem ſchrecklichen Tode geopfert:
Unſere Haͤnde vermochten ja nicht, von der hohen Pforte
Abzuwaͤlzen den maͤchtigen Fels, den der Rieſe davorſchob.
Drum erwarteten wir mit Seufzen die heilige Fruͤhe.
295
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Als die daͤmmernde Fruͤhe mit Roſenfingern erwachte,
Zuͤndet' er Feuer an, und melkte die Ziegen und Schafe
Nach der Ordnung, und legte den Muͤttern die Saͤugling' ans Euter.
Und nachdem er ſeine Geſchaͤft' in Eile verrichtet,
Packt' er abermal zween, und tiſchte die Stuͤcke zum Schmauſ' auf.
Nach dem Fruͤhſtuͤck trieb er die feiſte Heerd' aus der Hoͤhle.
Spielend enthob er die Laſt des großen Spundes, und ſpielend
Sezt' er ſie vor, als ſezt' er auf ſeinen Koͤcher den Deckel.
Und nun trieb der Kuͤklop mit gellendem Pfeifen die Heerde
Auf das Gebirg'. Ich blieb in der Hoͤhle mit tauſend Entwuͤrfen,
Rache zu uͤben, wenn mir Athaͤnaͤ Huͤlfe gewaͤhrte.
Aber von allen Entwuͤrfen gefiel mir dieſer am beßten.
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Neben dem Stalle lag des Kuͤklopen gewaltige Keule,
Gruͤn, aus Olivenholze gehaun. Zum kuͤnftigen Stabe
Dorrte ſie hier an der Wand, und kam uns vor nach dem Anſehn,
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