Weder an Kleidung noch Wuchs; ich gleiche sterblichen Menschen. 210 Kennt ihr einen, der euch der unglückseligste aller Sterblichen scheint; ich bin ihm gleich zu achten an Elend! Ja ich wüßte vielleicht noch größere Leiden zu nennen, Welche der Götter Rath auf meine Seele gehäuft hat! Aber erlaubt mir nun zu eßen, wie sehr ich auch traure. 215 Denn nichts ist unbändiger, als der zürnende Hunger, Der mit tirannischer Wut an sich die Menschen errinnert, Selbst den leidenden Mann mit tiefbekümmerter Seele. Also bin ich von Herzen bekümmert; aber beständig Fodert er Speis' und Trank, der Wüterich! und ich vergeße 220 Alles, was ich gelitten, bis ich den Hunger gesättigt. Aber eilet, ihr Fürsten, sobald der Morgen sich röthet, Mich unglücklichen Mann in meine Heimat zu senden! Denn soviel ich erlitten, ich stürbe sogar um den Anblick Meiner Güter und Knechte und meines hohen Palastes! 225
Also sprach er; da lobten ihn alle Fürsten, und riethen, Heimzusenden den Gast, weil seine Bitte gerecht war. Als sie des Trankes geopfert, und nach Verlangen getrunken; Gingen sie alle heim, der süßen Ruhe zu pflegen. Aber im Saale blieb der göttergleiche Odüßeus; 230 Neben ihm saß der König und seine Gemahlin Arätä; Und die Mägde räumten des Mahls Geräthe von hinnen. Jezo begann Arätä, die lilienarmige Fürstin; Denn sie erkannte den Mantel und Rock, die schönen Gewande, Welche sie selber gewirkt mit ihren dienenden Jungfraun; 235 Und sie redet' ihn an, und sprach die geflügelten Worte:
Hierum muß ich dich, Fremdling, vor allen Dingen befragen:
Siebenter Geſang.
Weder an Kleidung noch Wuchs; ich gleiche ſterblichen Menſchen. 210 Kennt ihr einen, der euch der ungluͤckſeligſte aller Sterblichen ſcheint; ich bin ihm gleich zu achten an Elend! Ja ich wuͤßte vielleicht noch groͤßere Leiden zu nennen, Welche der Goͤtter Rath auf meine Seele gehaͤuft hat! Aber erlaubt mir nun zu eßen, wie ſehr ich auch traure. 215 Denn nichts iſt unbaͤndiger, als der zuͤrnende Hunger, Der mit tiranniſcher Wut an ſich die Menſchen errinnert, Selbſt den leidenden Mann mit tiefbekuͤmmerter Seele. Alſo bin ich von Herzen bekuͤmmert; aber beſtaͤndig Fodert er Speiſ' und Trank, der Wuͤterich! und ich vergeße 220 Alles, was ich gelitten, bis ich den Hunger geſaͤttigt. Aber eilet, ihr Fuͤrſten, ſobald der Morgen ſich roͤthet, Mich ungluͤcklichen Mann in meine Heimat zu ſenden! Denn ſoviel ich erlitten, ich ſtuͤrbe ſogar um den Anblick Meiner Guͤter und Knechte und meines hohen Palaſtes! 225
Alſo ſprach er; da lobten ihn alle Fuͤrſten, und riethen, Heimzuſenden den Gaſt, weil ſeine Bitte gerecht war. Als ſie des Trankes geopfert, und nach Verlangen getrunken; Gingen ſie alle heim, der ſuͤßen Ruhe zu pflegen. Aber im Saale blieb der goͤttergleiche Oduͤßeus; 230 Neben ihm ſaß der Koͤnig und ſeine Gemahlin Araͤtaͤ; Und die Maͤgde raͤumten des Mahls Geraͤthe von hinnen. Jezo begann Araͤtaͤ, die lilienarmige Fuͤrſtin; Denn ſie erkannte den Mantel und Rock, die ſchoͤnen Gewande, Welche ſie ſelber gewirkt mit ihren dienenden Jungfraun; 235 Und ſie redet' ihn an, und ſprach die gefluͤgelten Worte:
Hierum muß ich dich, Fremdling, vor allen Dingen befragen:
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Siebenter Geſang.
Weder an Kleidung noch Wuchs; ich gleiche ſterblichen Menſchen.
Kennt ihr einen, der euch der ungluͤckſeligſte aller
Sterblichen ſcheint; ich bin ihm gleich zu achten an Elend!
Ja ich wuͤßte vielleicht noch groͤßere Leiden zu nennen,
Welche der Goͤtter Rath auf meine Seele gehaͤuft hat!
Aber erlaubt mir nun zu eßen, wie ſehr ich auch traure.
Denn nichts iſt unbaͤndiger, als der zuͤrnende Hunger,
Der mit tiranniſcher Wut an ſich die Menſchen errinnert,
Selbſt den leidenden Mann mit tiefbekuͤmmerter Seele.
Alſo bin ich von Herzen bekuͤmmert; aber beſtaͤndig
Fodert er Speiſ' und Trank, der Wuͤterich! und ich vergeße
Alles, was ich gelitten, bis ich den Hunger geſaͤttigt.
Aber eilet, ihr Fuͤrſten, ſobald der Morgen ſich roͤthet,
Mich ungluͤcklichen Mann in meine Heimat zu ſenden!
Denn ſoviel ich erlitten, ich ſtuͤrbe ſogar um den Anblick
Meiner Guͤter und Knechte und meines hohen Palaſtes!
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Alſo ſprach er; da lobten ihn alle Fuͤrſten, und riethen,
Heimzuſenden den Gaſt, weil ſeine Bitte gerecht war.
Als ſie des Trankes geopfert, und nach Verlangen getrunken;
Gingen ſie alle heim, der ſuͤßen Ruhe zu pflegen.
Aber im Saale blieb der goͤttergleiche Oduͤßeus;
Neben ihm ſaß der Koͤnig und ſeine Gemahlin Araͤtaͤ;
Und die Maͤgde raͤumten des Mahls Geraͤthe von hinnen.
Jezo begann Araͤtaͤ, die lilienarmige Fuͤrſtin;
Denn ſie erkannte den Mantel und Rock, die ſchoͤnen Gewande,
Welche ſie ſelber gewirkt mit ihren dienenden Jungfraun;
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Homerus: Odüssee übersezt von Johann Heinrich Voß. Hamburg, 1781, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/voss_oduessee_1781/141>, abgerufen am 22.07.2024.
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