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Dr. Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. 3. Aufl. Stuttgart, 1874.

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Drittens dehnt sich die Nothwendigkeit, den Inhalt der Mythologie zu kennen, auf das Verständniss und die Schätzung der Werke aus, welche dem Reich anderer schöner Künste angehören, der Malerei, Bildhauerei und Architektur. Und zwar gilt der dritte Punkt ebenso von den zur Nachwelt überlieferten Resten als von den Leistungen der neueren Meister auf diesen drei Kunstgebieten.

Wir wollen hier nur auf das Verständniss der griechischen und römischen Klassiker einen Blick werfen. Wer könnte ohne Einblick in das hellenische Göttersystem einen Homer, Pindar und die dramatischen Dichter Athens begreifen? Wer könnte sich rühmen, dass er den lateinischen Text des Virgilius fasse, ohne mit dem mythologischen Hintergrunde des Ganzen und seiner tausendfältigen Einzelnheiten, kurz, mit der Anschauung der alten Welt möglichst bekannt zu sein? Lesen wir unter anderm den ersten Gesang der Aeneide, eines Gedichts, worin nicht blos von der trojanischen Epoche erzählt wird, sondern der ganze damalige Himmel Griechenlands und Roms ausgespannt ist: wie könnte ein Deutscher ohne Einsicht in die Götterlehre und das Sagenthum beider Völker folgende Stellen verstehen, die wir nach der vortrefflichen Uebersetzung des Virgilius von Wilhelm Binder mittheilen? Räthselhaft würden einem solchen Leser diese Darstellungen klingen, oder vielmehr, man würde sie - ungelesen lassen. Juno tritt erzürnt auf, als sie den aus Troja entkommenen Aeneas mit seinen Genossen über das Mittelmeer nach Italien segeln sieht:

"Auch nicht waren des Zorns Ursachen, die grausamen Schmerzen
Ihrem Gemüth entfallen: in innerster Seele bewahrt sie
Paris' richtenden Spruch und die Schmach der verachteten Schönheit
Und das verhasste Geschlecht und das Amt Ganymeds, des Entführten?"

Was thut daher die Juno? Sie wendet sich an Äeolus, den Gott der Winde, damit er einen Sturm errege, der die Schiffe verschlinge:

Dort zähmet in räumiger Bergkluft
Aeolus kämpfende Wind' und die laut auftosenden Wetter
Durch obherrschende Macht und zwingt sie mit Band und Gefängniss.
Unmuthsvoll umtoben bei lautem Gemurmel des Berges u. s. w.

Aeolus gehorcht und entfesselt die Winde. Neptun bemerkt es und mischt sich zu Gunsten der Troer in die Sache; die Schiffe werden von der spitzigen Klippe weggedrängt.

Neptun enthebet sie selbst mit dem Dreizack,
Oeffnet des Sands ungeheueren Wall und beruhigt die Wasser,
Gleitet dann über den Spiegel dahin auf geflügeltem Wagen.

Die mit Aeneas geretteten hungrigen Troer gewinnen das Ufer und zünden ein Feuer an, um die Mahlzeit zuzurüsten.

Ceres' Geschenk, von den Fluthen verletzt, und Geräthe der Ceres
Holen die völlig Erschöpften herbei, das gerettete Korn dann
Rösten sie flugs an der Flamm' und zermalmen es zwischen den Steinen.

Darauf werden Jupiter, Venus, Ceres, Amor und andere Götter sammt der Königin Dido vorgeführt. Wie soll ein Deutscher, der in dieses Gedicht blickt, eine Ahnung von dem Sinne haben, wenn ihm jene Gestalten fremd wären? Was soll er sich von Juno, Jupiter, Aeneas, Neptun, Ceres, Venus, Amor denken? Was von Aeolus, von Paris, Ganymedes, Bacchus und Triton? Wie soll ihm eine Darstellung klar werden, die ihm nicht gleichgültig sein kann, da ihr Stoff von welthistorischem Interesse ist und die Gründung Roms betrifft? Die antike Welt würde vor ihm wie mit Brettern verschlossen bleiben.

Nicht besser, eher noch schlimmer, müsste es uns mit den Werken der andern Künste ergehen. Betrachten wir ein Paar Gemälde eines grossen, neueren

Drittens dehnt sich die Nothwendigkeit, den Inhalt der Mythologie zu kennen, auf das Verständniss und die Schätzung der Werke aus, welche dem Reich anderer schöner Künste angehören, der Malerei, Bildhauerei und Architektur. Und zwar gilt der dritte Punkt ebenso von den zur Nachwelt überlieferten Resten als von den Leistungen der neueren Meister auf diesen drei Kunstgebieten.

Wir wollen hier nur auf das Verständniss der griechischen und römischen Klassiker einen Blick werfen. Wer könnte ohne Einblick in das hellenische Göttersystem einen Homer, Pindar und die dramatischen Dichter Athens begreifen? Wer könnte sich rühmen, dass er den lateinischen Text des Virgilius fasse, ohne mit dem mythologischen Hintergrunde des Ganzen und seiner tausendfältigen Einzelnheiten, kurz, mit der Anschauung der alten Welt möglichst bekannt zu sein? Lesen wir unter anderm den ersten Gesang der Aeneïde, eines Gedichts, worin nicht blos von der trojanischen Epoche erzählt wird, sondern der ganze damalige Himmel Griechenlands und Roms ausgespannt ist: wie könnte ein Deutscher ohne Einsicht in die Götterlehre und das Sagenthum beider Völker folgende Stellen verstehen, die wir nach der vortrefflichen Uebersetzung des Virgilius von Wilhelm Binder mittheilen? Räthselhaft würden einem solchen Leser diese Darstellungen klingen, oder vielmehr, man würde sie – ungelesen lassen. Juno tritt erzürnt auf, als sie den aus Troja entkommenen Aeneas mit seinen Genossen über das Mittelmeer nach Italien segeln sieht:

»Auch nicht waren des Zorns Ursachen, die grausamen Schmerzen
Ihrem Gemüth entfallen: in innerster Seele bewahrt sie
Paris' richtenden Spruch und die Schmach der verachteten Schönheit
Und das verhasste Geschlecht und das Amt Ganymeds, des Entführten?«

Was thut daher die Juno? Sie wendet sich an Äeolus, den Gott der Winde, damit er einen Sturm errege, der die Schiffe verschlinge:

Dort zähmet in räumiger Bergkluft
Aeolus kämpfende Wind' und die laut auftosenden Wetter
Durch obherrschende Macht und zwingt sie mit Band und Gefängniss.
Unmuthsvoll umtoben bei lautem Gemurmel des Berges u. s. w.

Aeolus gehorcht und entfesselt die Winde. Neptun bemerkt es und mischt sich zu Gunsten der Troer in die Sache; die Schiffe werden von der spitzigen Klippe weggedrängt.

Neptun enthebet sie selbst mit dem Dreizack,
Oeffnet des Sands ungeheueren Wall und beruhigt die Wasser,
Gleitet dann über den Spiegel dahin auf geflügeltem Wagen.

Die mit Aeneas geretteten hungrigen Troer gewinnen das Ufer und zünden ein Feuer an, um die Mahlzeit zuzurüsten.

Ceres' Geschenk, von den Fluthen verletzt, und Geräthe der Ceres
Holen die völlig Erschöpften herbei, das gerettete Korn dann
Rösten sie flugs an der Flamm' und zermalmen es zwischen den Steinen.

Darauf werden Jupiter, Venus, Ceres, Amor und andere Götter sammt der Königin Dido vorgeführt. Wie soll ein Deutscher, der in dieses Gedicht blickt, eine Ahnung von dem Sinne haben, wenn ihm jene Gestalten fremd wären? Was soll er sich von Juno, Jupiter, Aeneas, Neptun, Ceres, Venus, Amor denken? Was von Aeolus, von Paris, Ganymedes, Bacchus und Triton? Wie soll ihm eine Darstellung klar werden, die ihm nicht gleichgültig sein kann, da ihr Stoff von welthistorischem Interesse ist und die Gründung Roms betrifft? Die antike Welt würde vor ihm wie mit Brettern verschlossen bleiben.

Nicht besser, eher noch schlimmer, müsste es uns mit den Werken der andern Künste ergehen. Betrachten wir ein Paar Gemälde eines grossen, neueren

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[LXVIII/0068] Drittens dehnt sich die Nothwendigkeit, den Inhalt der Mythologie zu kennen, auf das Verständniss und die Schätzung der Werke aus, welche dem Reich anderer schöner Künste angehören, der Malerei, Bildhauerei und Architektur. Und zwar gilt der dritte Punkt ebenso von den zur Nachwelt überlieferten Resten als von den Leistungen der neueren Meister auf diesen drei Kunstgebieten. Wir wollen hier nur auf das Verständniss der griechischen und römischen Klassiker einen Blick werfen. Wer könnte ohne Einblick in das hellenische Göttersystem einen Homer, Pindar und die dramatischen Dichter Athens begreifen? Wer könnte sich rühmen, dass er den lateinischen Text des Virgilius fasse, ohne mit dem mythologischen Hintergrunde des Ganzen und seiner tausendfältigen Einzelnheiten, kurz, mit der Anschauung der alten Welt möglichst bekannt zu sein? Lesen wir unter anderm den ersten Gesang der Aeneïde, eines Gedichts, worin nicht blos von der trojanischen Epoche erzählt wird, sondern der ganze damalige Himmel Griechenlands und Roms ausgespannt ist: wie könnte ein Deutscher ohne Einsicht in die Götterlehre und das Sagenthum beider Völker folgende Stellen verstehen, die wir nach der vortrefflichen Uebersetzung des Virgilius von Wilhelm Binder mittheilen? Räthselhaft würden einem solchen Leser diese Darstellungen klingen, oder vielmehr, man würde sie – ungelesen lassen. Juno tritt erzürnt auf, als sie den aus Troja entkommenen Aeneas mit seinen Genossen über das Mittelmeer nach Italien segeln sieht: »Auch nicht waren des Zorns Ursachen, die grausamen Schmerzen Ihrem Gemüth entfallen: in innerster Seele bewahrt sie Paris' richtenden Spruch und die Schmach der verachteten Schönheit Und das verhasste Geschlecht und das Amt Ganymeds, des Entführten?« Was thut daher die Juno? Sie wendet sich an Äeolus, den Gott der Winde, damit er einen Sturm errege, der die Schiffe verschlinge: Dort zähmet in räumiger Bergkluft Aeolus kämpfende Wind' und die laut auftosenden Wetter Durch obherrschende Macht und zwingt sie mit Band und Gefängniss. Unmuthsvoll umtoben bei lautem Gemurmel des Berges u. s. w. Aeolus gehorcht und entfesselt die Winde. Neptun bemerkt es und mischt sich zu Gunsten der Troer in die Sache; die Schiffe werden von der spitzigen Klippe weggedrängt. Neptun enthebet sie selbst mit dem Dreizack, Oeffnet des Sands ungeheueren Wall und beruhigt die Wasser, Gleitet dann über den Spiegel dahin auf geflügeltem Wagen. Die mit Aeneas geretteten hungrigen Troer gewinnen das Ufer und zünden ein Feuer an, um die Mahlzeit zuzurüsten. Ceres' Geschenk, von den Fluthen verletzt, und Geräthe der Ceres Holen die völlig Erschöpften herbei, das gerettete Korn dann Rösten sie flugs an der Flamm' und zermalmen es zwischen den Steinen. Darauf werden Jupiter, Venus, Ceres, Amor und andere Götter sammt der Königin Dido vorgeführt. Wie soll ein Deutscher, der in dieses Gedicht blickt, eine Ahnung von dem Sinne haben, wenn ihm jene Gestalten fremd wären? Was soll er sich von Juno, Jupiter, Aeneas, Neptun, Ceres, Venus, Amor denken? Was von Aeolus, von Paris, Ganymedes, Bacchus und Triton? Wie soll ihm eine Darstellung klar werden, die ihm nicht gleichgültig sein kann, da ihr Stoff von welthistorischem Interesse ist und die Gründung Roms betrifft? Die antike Welt würde vor ihm wie mit Brettern verschlossen bleiben. Nicht besser, eher noch schlimmer, müsste es uns mit den Werken der andern Künste ergehen. Betrachten wir ein Paar Gemälde eines grossen, neueren

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Zitationshilfe: Dr. Vollmer’s Wörterbuch der Mythologie aller Völker. 3. Aufl. Stuttgart, 1874, S. LXVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vollmer_mythologie_1874/68>, abgerufen am 05.12.2024.