Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vogt, Carl: Untersuchungen über Thierstaaten. Frankfurt (Main), 1851.

Bild:
<< vorherige Seite

Natur ist wie die Menschen; während der arme Lappe aus dem einzigen Rennthiere fast alle seine beschränkten Bedürfnisse befriedigt und mit harter Arbeit diese Befriedigung erkämpfen muß, pflückt der Bewohner tropischer Zonen im Müssiggange die herrlichsten Früchte, welche ihm eine verschwenderische Vegetation bietet. Dort genügt die weite Masse des Meeres nicht zur Hervorbringung von Reichthümern, die hier ein Tropfen in Fülle birgt. Auch in dem einzelnen Falle gilt dieses. Was die üppige Natur nur einzeln den mannigfaltigen Formen der übrigen Seethiere des Nordens zutheilte, hat sie hier im reichen Maaße auf den Kindern des Südens vereinigt: wunderbare Farben, deren Klarheit und durchsichtigen Schmelz kein Pinsel nachzuahmen im Stande ist, krystallne Transparenz, die jedes Fäserchen des ganzen Baues bis in die kleinsten Einzelnheiten enthüllt, aber zugleich auch der Forschung eine unendliche Menge von Schwierigkeiten schafft, da das menschliche Auge überall des Schattens bedarf, um die wahren Verhältnisse der Dinge zu ergründen; - ungemeine Zartheit der Organisation und eine außerordentliche Weichheit schädlichen Einflüssen gegenüber, so daß der geringste Eingriff, die mindeste Störung genügt, um die ganze Organisation zu vernichten und das prachtvolle lebende Wesen in ein unscheinbares Häufchen schleimiger Masse zu verwandeln. Dazu eine wunderbare Zusammensetzung aus so verschiedenen Theilen, daß man sagen möchte, das Ganze sei gewisser Maßen nur ein halb gelungener Versuch der Natur aus einzelnen Organen ein Gesammtindividuum zu bilden. Diese Organe aber, die sonst in vollständig durchgebildeten Organismen nur als Theile, als durch den Organismus bestimmte unfreie Theile auftreten, sind hier, wenn ich mich

Natur ist wie die Menschen; während der arme Lappe aus dem einzigen Rennthiere fast alle seine beschränkten Bedürfnisse befriedigt und mit harter Arbeit diese Befriedigung erkämpfen muß, pflückt der Bewohner tropischer Zonen im Müssiggange die herrlichsten Früchte, welche ihm eine verschwenderische Vegetation bietet. Dort genügt die weite Masse des Meeres nicht zur Hervorbringung von Reichthümern, die hier ein Tropfen in Fülle birgt. Auch in dem einzelnen Falle gilt dieses. Was die üppige Natur nur einzeln den mannigfaltigen Formen der übrigen Seethiere des Nordens zutheilte, hat sie hier im reichen Maaße auf den Kindern des Südens vereinigt: wunderbare Farben, deren Klarheit und durchsichtigen Schmelz kein Pinsel nachzuahmen im Stande ist, krystallne Transparenz, die jedes Fäserchen des ganzen Baues bis in die kleinsten Einzelnheiten enthüllt, aber zugleich auch der Forschung eine unendliche Menge von Schwierigkeiten schafft, da das menschliche Auge überall des Schattens bedarf, um die wahren Verhältnisse der Dinge zu ergründen; – ungemeine Zartheit der Organisation und eine außerordentliche Weichheit schädlichen Einflüssen gegenüber, so daß der geringste Eingriff, die mindeste Störung genügt, um die ganze Organisation zu vernichten und das prachtvolle lebende Wesen in ein unscheinbares Häufchen schleimiger Masse zu verwandeln. Dazu eine wunderbare Zusammensetzung aus so verschiedenen Theilen, daß man sagen möchte, das Ganze sei gewisser Maßen nur ein halb gelungener Versuch der Natur aus einzelnen Organen ein Gesammtindividuum zu bilden. Diese Organe aber, die sonst in vollständig durchgebildeten Organismen nur als Theile, als durch den Organismus bestimmte unfreie Theile auftreten, sind hier, wenn ich mich

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0213" n="183"/>
Natur ist wie die Menschen; während der arme Lappe aus dem einzigen Rennthiere fast alle seine beschränkten Bedürfnisse befriedigt und mit harter Arbeit diese Befriedigung erkämpfen muß, pflückt der Bewohner tropischer Zonen im Müssiggange die herrlichsten Früchte, welche ihm eine verschwenderische Vegetation bietet. Dort genügt die weite Masse des Meeres nicht zur Hervorbringung von Reichthümern, die hier ein Tropfen in Fülle birgt. Auch in dem einzelnen Falle gilt dieses. Was die üppige Natur nur einzeln den mannigfaltigen Formen der übrigen Seethiere des Nordens zutheilte, hat sie hier im reichen Maaße auf den Kindern des Südens vereinigt: wunderbare Farben, deren Klarheit und durchsichtigen Schmelz kein Pinsel nachzuahmen im Stande ist, krystallne Transparenz, die jedes Fäserchen des ganzen Baues bis in die kleinsten Einzelnheiten enthüllt, aber zugleich auch der Forschung eine unendliche Menge von Schwierigkeiten schafft, da das menschliche Auge überall des Schattens bedarf, um die wahren Verhältnisse der Dinge zu ergründen; &#x2013; ungemeine Zartheit der Organisation und eine außerordentliche Weichheit schädlichen Einflüssen gegenüber, so daß der geringste Eingriff, die mindeste Störung genügt, um die ganze Organisation zu vernichten und das prachtvolle lebende Wesen in ein unscheinbares Häufchen schleimiger Masse zu verwandeln. Dazu eine wunderbare Zusammensetzung aus so verschiedenen Theilen, daß man sagen möchte, das Ganze sei gewisser Maßen nur ein halb gelungener Versuch der Natur aus einzelnen Organen ein Gesammtindividuum zu bilden. Diese Organe aber, die sonst in vollständig durchgebildeten Organismen nur als Theile, als durch den Organismus bestimmte unfreie Theile auftreten, sind hier, wenn ich mich
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[183/0213] Natur ist wie die Menschen; während der arme Lappe aus dem einzigen Rennthiere fast alle seine beschränkten Bedürfnisse befriedigt und mit harter Arbeit diese Befriedigung erkämpfen muß, pflückt der Bewohner tropischer Zonen im Müssiggange die herrlichsten Früchte, welche ihm eine verschwenderische Vegetation bietet. Dort genügt die weite Masse des Meeres nicht zur Hervorbringung von Reichthümern, die hier ein Tropfen in Fülle birgt. Auch in dem einzelnen Falle gilt dieses. Was die üppige Natur nur einzeln den mannigfaltigen Formen der übrigen Seethiere des Nordens zutheilte, hat sie hier im reichen Maaße auf den Kindern des Südens vereinigt: wunderbare Farben, deren Klarheit und durchsichtigen Schmelz kein Pinsel nachzuahmen im Stande ist, krystallne Transparenz, die jedes Fäserchen des ganzen Baues bis in die kleinsten Einzelnheiten enthüllt, aber zugleich auch der Forschung eine unendliche Menge von Schwierigkeiten schafft, da das menschliche Auge überall des Schattens bedarf, um die wahren Verhältnisse der Dinge zu ergründen; – ungemeine Zartheit der Organisation und eine außerordentliche Weichheit schädlichen Einflüssen gegenüber, so daß der geringste Eingriff, die mindeste Störung genügt, um die ganze Organisation zu vernichten und das prachtvolle lebende Wesen in ein unscheinbares Häufchen schleimiger Masse zu verwandeln. Dazu eine wunderbare Zusammensetzung aus so verschiedenen Theilen, daß man sagen möchte, das Ganze sei gewisser Maßen nur ein halb gelungener Versuch der Natur aus einzelnen Organen ein Gesammtindividuum zu bilden. Diese Organe aber, die sonst in vollständig durchgebildeten Organismen nur als Theile, als durch den Organismus bestimmte unfreie Theile auftreten, sind hier, wenn ich mich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-10-29T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Universität Michigan: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-10-29T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-10-29T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.
  • Geviertstriche „—“ werden als normale Gedankenstriche „–“ wiedergegeben.
  • Die Transkription folgt im Übrigen dem Original.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vogt_thierstaaten_1851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vogt_thierstaaten_1851/213
Zitationshilfe: Vogt, Carl: Untersuchungen über Thierstaaten. Frankfurt (Main), 1851, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vogt_thierstaaten_1851/213>, abgerufen am 25.11.2024.