schränkt, die allerdings den wichtigsten Theil ausmachen, da sie die knöcherne Hülle desjenigen Systemes bilden, welches äußeren Einflüs- sen am wenigsten unterworfen ist.
Die Analyse des Schädelbaues erscheint in der That jetzt als die wichtigste Handhabe zur Untersuchung der menschlichen Naturgeschichte. Sie kann indeß nur dann bestimme Resultate geben, wenn sie nicht auf einzelne Exemplare, sondern auf ganze Reihen von Schädeln ge- stützt wird, so daß die individuellen Abweichungen verschwinden und nur die typischen Eigenthümlichkeiten übrig bleiben. Um ein vollstän- diges Bild des Schädelbaues zu entwerfen, ist gewissermaßen die architektonische Behandlung von allen Seiten her nöthig und nur eine gleichmäßige, vergleichende Aufrißzeichnung der Schädel von oben und unten, vorn und hinten, sowie im Profile kann Andern die Schädel versinnlichen und deren Forschungen weiter führen. Diese Aufrisse müssen aber genau unter den Bedingungen eines architektonischen Ris- ses gemacht werden, wenn man sich ihrer zur Vergleichung soll be- dienen können. In gleicher Weise gehört die genaue Angabe der verschiedenen Durchmesser und der Verhältnisse derselben zu einander wesentlich zu der genauen Beschreibung einer typischen Schädelconfor- mation. Bei der Profilansicht des Schädels treten besonders zwei fundamentale Unterschiede in die Erscheinung. Bei vielen Völkerschaf- ten, am stärksten ausgeprägt bei den Negern, treten die Kiefer affen- ähnlich vor und die Schneidezähne sind schief in dieselben eingesetzt, so daß sie beim Zusammentreffen einen nach außen vorspringenden Winkel bilden. Der Gesichtswinkel wird durch dieses Vorspringen der Kiefergebilde kleiner und da meistens hiermit eine abgeplattete Nase und aufgeworfene Lippen verbunden sind, so entsteht hierdurch eine schnauzenförmige Vorragung des Untergesichts, welche der ganzen Physiognomie etwas Thierisches giebt. Man hat diese Grundform des Schädelbaues, welche offenbar eine Hinneigung zur Schädelform der Affen anzeigt, die Prognathe Schädelform genannt, zum Unterschiede von der Orthognathen, bei welcher die Kiefer mehr zurücksinken und die Schneidezähne deßhalb eine senkrechte Stellung gegen einander behaupten. Im Allgemeinen kann man sagen, daß die Entwickelung der Kiefer allerdings zu der Kulturfähigkeit der Men- schenarten in nächster Beziehung steht und daß alle zu einer höheren Kulturstufe gelangten Völker zu den Gradezähnern, viele unkul- tivirte Rassen dagegen zu den Schiefzähnern gehören.
ſchränkt, die allerdings den wichtigſten Theil ausmachen, da ſie die knöcherne Hülle desjenigen Syſtemes bilden, welches äußeren Einflüſ- ſen am wenigſten unterworfen iſt.
Die Analyſe des Schädelbaues erſcheint in der That jetzt als die wichtigſte Handhabe zur Unterſuchung der menſchlichen Naturgeſchichte. Sie kann indeß nur dann beſtimme Reſultate geben, wenn ſie nicht auf einzelne Exemplare, ſondern auf ganze Reihen von Schädeln ge- ſtützt wird, ſo daß die individuellen Abweichungen verſchwinden und nur die typiſchen Eigenthümlichkeiten übrig bleiben. Um ein vollſtän- diges Bild des Schädelbaues zu entwerfen, iſt gewiſſermaßen die architektoniſche Behandlung von allen Seiten her nöthig und nur eine gleichmäßige, vergleichende Aufrißzeichnung der Schädel von oben und unten, vorn und hinten, ſowie im Profile kann Andern die Schädel verſinnlichen und deren Forſchungen weiter führen. Dieſe Aufriſſe müſſen aber genau unter den Bedingungen eines architektoniſchen Riſ- ſes gemacht werden, wenn man ſich ihrer zur Vergleichung ſoll be- dienen können. In gleicher Weiſe gehört die genaue Angabe der verſchiedenen Durchmeſſer und der Verhältniſſe derſelben zu einander weſentlich zu der genauen Beſchreibung einer typiſchen Schädelconfor- mation. Bei der Profilanſicht des Schädels treten beſonders zwei fundamentale Unterſchiede in die Erſcheinung. Bei vielen Völkerſchaf- ten, am ſtärkſten ausgeprägt bei den Negern, treten die Kiefer affen- ähnlich vor und die Schneidezähne ſind ſchief in dieſelben eingeſetzt, ſo daß ſie beim Zuſammentreffen einen nach außen vorſpringenden Winkel bilden. Der Geſichtswinkel wird durch dieſes Vorſpringen der Kiefergebilde kleiner und da meiſtens hiermit eine abgeplattete Naſe und aufgeworfene Lippen verbunden ſind, ſo entſteht hierdurch eine ſchnauzenförmige Vorragung des Untergeſichts, welche der ganzen Phyſiognomie etwas Thieriſches giebt. Man hat dieſe Grundform des Schädelbaues, welche offenbar eine Hinneigung zur Schädelform der Affen anzeigt, die Prognathe Schädelform genannt, zum Unterſchiede von der Orthognathen, bei welcher die Kiefer mehr zurückſinken und die Schneidezähne deßhalb eine ſenkrechte Stellung gegen einander behaupten. Im Allgemeinen kann man ſagen, daß die Entwickelung der Kiefer allerdings zu der Kulturfähigkeit der Men- ſchenarten in nächſter Beziehung ſteht und daß alle zu einer höheren Kulturſtufe gelangten Völker zu den Gradezähnern, viele unkul- tivirte Raſſen dagegen zu den Schiefzähnern gehören.
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ſchränkt, die allerdings den wichtigſten Theil ausmachen, da ſie die
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Die Analyſe des Schädelbaues erſcheint in der That jetzt als die
wichtigſte Handhabe zur Unterſuchung der menſchlichen Naturgeſchichte.
Sie kann indeß nur dann beſtimme Reſultate geben, wenn ſie nicht
auf einzelne Exemplare, ſondern auf ganze Reihen von Schädeln ge-
ſtützt wird, ſo daß die individuellen Abweichungen verſchwinden und
nur die typiſchen Eigenthümlichkeiten übrig bleiben. Um ein vollſtän-
diges Bild des Schädelbaues zu entwerfen, iſt gewiſſermaßen die
architektoniſche Behandlung von allen Seiten her nöthig und nur eine
gleichmäßige, vergleichende Aufrißzeichnung der Schädel von oben und
unten, vorn und hinten, ſowie im Profile kann Andern die Schädel
verſinnlichen und deren Forſchungen weiter führen. Dieſe Aufriſſe
müſſen aber genau unter den Bedingungen eines architektoniſchen Riſ-
ſes gemacht werden, wenn man ſich ihrer zur Vergleichung ſoll be-
dienen können. In gleicher Weiſe gehört die genaue Angabe der
verſchiedenen Durchmeſſer und der Verhältniſſe derſelben zu einander
weſentlich zu der genauen Beſchreibung einer typiſchen Schädelconfor-
mation. Bei der Profilanſicht des Schädels treten beſonders zwei
fundamentale Unterſchiede in die Erſcheinung. Bei vielen Völkerſchaf-
ten, am ſtärkſten ausgeprägt bei den Negern, treten die Kiefer affen-
ähnlich vor und die Schneidezähne ſind ſchief in dieſelben eingeſetzt,
ſo daß ſie beim Zuſammentreffen einen nach außen vorſpringenden
Winkel bilden. Der Geſichtswinkel wird durch dieſes Vorſpringen
der Kiefergebilde kleiner und da meiſtens hiermit eine abgeplattete
Naſe und aufgeworfene Lippen verbunden ſind, ſo entſteht hierdurch
eine ſchnauzenförmige Vorragung des Untergeſichts, welche der ganzen
Phyſiognomie etwas Thieriſches giebt. Man hat dieſe Grundform
des Schädelbaues, welche offenbar eine Hinneigung zur Schädelform
der Affen anzeigt, die Prognathe Schädelform genannt, zum
Unterſchiede von der Orthognathen, bei welcher die Kiefer mehr
zurückſinken und die Schneidezähne deßhalb eine ſenkrechte Stellung
gegen einander behaupten. Im Allgemeinen kann man ſagen, daß die
Entwickelung der Kiefer allerdings zu der Kulturfähigkeit der Men-
ſchenarten in nächſter Beziehung ſteht und daß alle zu einer höheren
Kulturſtufe gelangten Völker zu den Gradezähnern, viele unkul-
tivirte Raſſen dagegen zu den Schiefzähnern gehören.
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Vogt, Carl: Zoologische Briefe. Bd. 2. Frankfurt (Main), 1851, S. 555. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vogt_briefe02_1851/561>, abgerufen am 22.11.2024.
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