Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1225.001 Zu diesem Gipfel der belebenden Veranschaulichung, der Personification, pvi_1225.021
pvi_1225.001 Zu diesem Gipfel der belebenden Veranschaulichung, der Personification, pvi_1225.021 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0087" n="1225"/><lb n="pvi_1225.001"/> in den sog. Moralitäten, welche mit der größten Keckheit jeden moralischen <lb n="pvi_1225.002"/> Begriff als dramatische Person einzuführen pflegten. Es war dieß freilich, <lb n="pvi_1225.003"/> da es ohne mythischen Glauben geschah, zunächst Allegorie; allein die <lb n="pvi_1225.004"/> dramatische Aufführung gab dem persönlichen Bild etwas Ueberzeugendes, <lb n="pvi_1225.005"/> die Geläufigkeit etwas Haltbares und es durfte nur die Zauberkraft des <lb n="pvi_1225.006"/> Genius dazu kommen, so sprang statt der Allegorie ein Wesen hervor, das <lb n="pvi_1225.007"/> wenigstens im Augenblicke der poetischen Anschauung wahres Leben hat, <lb n="pvi_1225.008"/> kein Gott, aber etwas wie eine Geister-Erscheinung. So zur Kühnheit <lb n="pvi_1225.009"/> gewöhnt und durch die entsprechende Gewohnheit seines Publikums gehalten <lb n="pvi_1225.010"/> konnte Shakespeare es wagen, sogar die Luft einen ungebundenen Wüstling, <lb n="pvi_1225.011"/> den Wind einen Buhler, das Gelächter einen Geck zu nennen, das Mitleid <lb n="pvi_1225.012"/> als nacktes Kind auf Wolken einherfahren zu lassen, den Ariel anzureden: <lb n="pvi_1225.013"/> mein schöner kleiner Fleiß (als ob der Fleiß ein persönlicher Geist und dieser <lb n="pvi_1225.014"/> Ariel wäre) und – wunderbar schön – von der Zeit zu sagen: der alte <lb n="pvi_1225.015"/> Glöckner, der kahle Küster. <anchor xml:id="vi013"/> Es sind dieß nicht eigentlich Metaphern, der <lb n="pvi_1225.016"/> Dichter vergleicht nicht, er beseelt den Begriff in sich und aus sich zur <lb n="pvi_1225.017"/> Person. Doch werden wir sehen, daß in der Metapher, die das Vergleichen <lb n="pvi_1225.018"/> verschweigt, mehr oder weniger von solcher Jnnigkeit des immanenten Beseelens <lb n="pvi_1225.019"/> liegt. <anchor xml:id="vi014"/> <note targetEnd="vi014" type="metapher" ana="#m1-0-1-1 #m1-7-1-1 #m1-8-1-4" target="vi013"/> </hi> </p> <lb n="pvi_1225.020"/> <p> <hi rendition="#et"> Zu diesem Gipfel der belebenden Veranschaulichung, der Personification, <lb n="pvi_1225.021"/> dringen nun die Formen des poetischen Ausdrucks, und zwar eben auch die <lb n="pvi_1225.022"/> bisher betrachteten einfacheren, überhaupt mit aller Gewalt hin. Es handelt <lb n="pvi_1225.023"/> sich jetzt nicht mehr blos von abstracten Begriffen, auch das Sinnliche, jede <lb n="pvi_1225.024"/> Erscheinung, die kein oder für sich kein besonderes Leben hat, wird so behandelt, <lb n="pvi_1225.025"/> daß ein eigener Geist in sie zu fahren scheint. Da Brutus Dolch <lb n="pvi_1225.026"/> den Cäsar durchbohrt, folgt ihm das Blut, als stürzt' es vor die Thür', <lb n="pvi_1225.027"/> um zu erfahren, ob wirklich Brutus so unfreundlich klopfte; dieß ist wie <lb n="pvi_1225.028"/> eine Vergleichung ausgedrückt, wir dürfen aber das kühne Bild von der <lb n="pvi_1225.029"/> Erörterung des Gleichnisses und der Metapher getrennt betrachten, weil es <lb n="pvi_1225.030"/> so schlagartig wirkt, daß das Blut eine fühlende Seele für sich zu haben <lb n="pvi_1225.031"/> scheint. Wenn bei Homer die Lanze hastig stürmt, wenn der Pfeil mit <lb n="pvi_1225.032"/> Begierde fliegt, im Fleische zu schwelgen, so ist dieß ebenfalls solche unmittelbare <lb n="pvi_1225.033"/> Beseelung. Die Alten sind auch hierin nicht weniger kühn, als <lb n="pvi_1225.034"/> ein Shakespeare; Erz, Helm, Feuer, Fackel, Licht, Tag, Wolke, Pflanze, <lb n="pvi_1225.035"/> selbst der glänzende Tisch haben Augen, die Felskluft ist hohläugig, ja <lb n="pvi_1225.036"/> sogar das nur Hörbare, der Ruf der Stimme heißt bei Sophokles fernsehend <lb n="pvi_1225.037"/> oder ferngesehen (vergl. Hense a. a. O.) Das ist durchaus nicht <lb n="pvi_1225.038"/> ein mühsames Herbeiziehen, sondern ein sehr phantasiereiches Schauen, <lb n="pvi_1225.039"/> wie die frische Einbildungskraft des Kindes in Allem Gesichter sieht, und <lb n="pvi_1225.040"/> daraus erwächst eine allgemeine Belebung der Natur.</hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1225/0087]
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in den sog. Moralitäten, welche mit der größten Keckheit jeden moralischen pvi_1225.002
Begriff als dramatische Person einzuführen pflegten. Es war dieß freilich, pvi_1225.003
da es ohne mythischen Glauben geschah, zunächst Allegorie; allein die pvi_1225.004
dramatische Aufführung gab dem persönlichen Bild etwas Ueberzeugendes, pvi_1225.005
die Geläufigkeit etwas Haltbares und es durfte nur die Zauberkraft des pvi_1225.006
Genius dazu kommen, so sprang statt der Allegorie ein Wesen hervor, das pvi_1225.007
wenigstens im Augenblicke der poetischen Anschauung wahres Leben hat, pvi_1225.008
kein Gott, aber etwas wie eine Geister-Erscheinung. So zur Kühnheit pvi_1225.009
gewöhnt und durch die entsprechende Gewohnheit seines Publikums gehalten pvi_1225.010
konnte Shakespeare es wagen, sogar die Luft einen ungebundenen Wüstling, pvi_1225.011
den Wind einen Buhler, das Gelächter einen Geck zu nennen, das Mitleid pvi_1225.012
als nacktes Kind auf Wolken einherfahren zu lassen, den Ariel anzureden: pvi_1225.013
mein schöner kleiner Fleiß (als ob der Fleiß ein persönlicher Geist und dieser pvi_1225.014
Ariel wäre) und – wunderbar schön – von der Zeit zu sagen: der alte pvi_1225.015
Glöckner, der kahle Küster. Es sind dieß nicht eigentlich Metaphern, der pvi_1225.016
Dichter vergleicht nicht, er beseelt den Begriff in sich und aus sich zur pvi_1225.017
Person. Doch werden wir sehen, daß in der Metapher, die das Vergleichen pvi_1225.018
verschweigt, mehr oder weniger von solcher Jnnigkeit des immanenten Beseelens pvi_1225.019
liegt.
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Zu diesem Gipfel der belebenden Veranschaulichung, der Personification, pvi_1225.021
dringen nun die Formen des poetischen Ausdrucks, und zwar eben auch die pvi_1225.022
bisher betrachteten einfacheren, überhaupt mit aller Gewalt hin. Es handelt pvi_1225.023
sich jetzt nicht mehr blos von abstracten Begriffen, auch das Sinnliche, jede pvi_1225.024
Erscheinung, die kein oder für sich kein besonderes Leben hat, wird so behandelt, pvi_1225.025
daß ein eigener Geist in sie zu fahren scheint. Da Brutus Dolch pvi_1225.026
den Cäsar durchbohrt, folgt ihm das Blut, als stürzt' es vor die Thür', pvi_1225.027
um zu erfahren, ob wirklich Brutus so unfreundlich klopfte; dieß ist wie pvi_1225.028
eine Vergleichung ausgedrückt, wir dürfen aber das kühne Bild von der pvi_1225.029
Erörterung des Gleichnisses und der Metapher getrennt betrachten, weil es pvi_1225.030
so schlagartig wirkt, daß das Blut eine fühlende Seele für sich zu haben pvi_1225.031
scheint. Wenn bei Homer die Lanze hastig stürmt, wenn der Pfeil mit pvi_1225.032
Begierde fliegt, im Fleische zu schwelgen, so ist dieß ebenfalls solche unmittelbare pvi_1225.033
Beseelung. Die Alten sind auch hierin nicht weniger kühn, als pvi_1225.034
ein Shakespeare; Erz, Helm, Feuer, Fackel, Licht, Tag, Wolke, Pflanze, pvi_1225.035
selbst der glänzende Tisch haben Augen, die Felskluft ist hohläugig, ja pvi_1225.036
sogar das nur Hörbare, der Ruf der Stimme heißt bei Sophokles fernsehend pvi_1225.037
oder ferngesehen (vergl. Hense a. a. O.) Das ist durchaus nicht pvi_1225.038
ein mühsames Herbeiziehen, sondern ein sehr phantasiereiches Schauen, pvi_1225.039
wie die frische Einbildungskraft des Kindes in Allem Gesichter sieht, und pvi_1225.040
daraus erwächst eine allgemeine Belebung der Natur.
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