Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1207.001 Wir werfen noch einen Blick auf ein besonderes Gebiet der Prosa, pvi_1207.021
pvi_1207.001 Wir werfen noch einen Blick auf ein besonderes Gebiet der Prosa, pvi_1207.021 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0069" n="1207"/><lb n="pvi_1207.001"/> in ihren einzelnen, beschränkten Gebieten leistet sie dieß, denn jedes derselben <lb n="pvi_1207.002"/> überläßt die Verfolgung gewisser Durchkreuzungen in ihre Causalität einem <lb n="pvi_1207.003"/> andern, die Philosophie nur überblickt das Ganze und versöhnt mit jeder <lb n="pvi_1207.004"/> Störung jedes Zusammenhangs auf jedem Punct. Jm Reiche des Schönen <lb n="pvi_1207.005"/> dagegen wird das Zufällige auf anderem Wege getilgt: es wird in seiner, <lb n="pvi_1207.006"/> die jeweilige Linie störenden Form entweder gar nicht zugelassen, als nicht <lb n="pvi_1207.007"/> seiend behandelt, oder in ein Furchtbares, ein Komisches aufgehoben, nimmermehr <lb n="pvi_1207.008"/> aber durch denkenden Ueberblick des unendlichen Zusammenhangs in <lb n="pvi_1207.009"/> Natur und Geschichte auf seine entfernten Nothwendigkeiten zurückgeführt. <lb n="pvi_1207.010"/> Hier sind wesentlich die §§. 52 und 53 zu vergleichen. Wie konnte nun <lb n="pvi_1207.011"/> W. von Humboldt den falschen Begriff mit seiner richtigen Jdee, daß das <lb n="pvi_1207.012"/> Schöne eine Totalität, ein geschlossenes, nur von sich selbst abhängiges <lb n="pvi_1207.013"/> Ganzes ist, vereinigen? Er verwechselt die organische Motivirung im <lb n="pvi_1207.014"/> Kunstwerk und jenen Charakter der Unendlichkeit, wodurch die Jdealgestalt <lb n="pvi_1207.015"/> alle Möglichkeiten, die Keime zu allem Großen in sich trägt, mit dem <lb n="pvi_1207.016"/> allseitigen Netze der Begründungen und Beziehungen, worin die Dinge <lb n="pvi_1207.017"/> <hi rendition="#g">außerhalb</hi> des Kunstwerks stehen und wodurch auf dem Standpuncte <lb n="pvi_1207.018"/> der Prosa Alles auf Alles hinweist, aber auf andere Weise, nämlich auf <lb n="pvi_1207.019"/> Kosten der freien Selbständigkeit.</hi> </p> <lb n="pvi_1207.020"/> <p> <hi rendition="#et"> Wir werfen noch einen Blick auf ein besonderes Gebiet der Prosa, <lb n="pvi_1207.021"/> die <hi rendition="#g">Geschichte.</hi> Das Wesentliche ist allerdings in anderem Zusammenhange <lb n="pvi_1207.022"/> (§. 400) schon vorgebracht und es bleibt nur wenig zu sagen übrig. <lb n="pvi_1207.023"/> Die Grundlage des historischen Standpuncts bleibt unbeschadet seines <lb n="pvi_1207.024"/> höheren Zieles wesentlich die, daß man erfahre und wisse, was geschehen <lb n="pvi_1207.025"/> ist, wogegen der Dichter zur Anschauung bringt, was nie und immer geschieht, <lb n="pvi_1207.026"/> jedoch in solcher individueller Bestimmtheit, daß der Zuhörer überzeugt <lb n="pvi_1207.027"/> ist, es könne in einer bestimmten Zeit, an bestimmtem Ort so und <lb n="pvi_1207.028"/> nicht anders geschehen sein, oder richtiger: es müßte, wenn es geschähe, <lb n="pvi_1207.029"/> so und nicht anders geschehen. Aristoteles sagt in der schon zu §. 400 <lb n="pvi_1207.030"/> angeführten Stelle der Poetik (C. 9), die Dichtkunst stelle mehr das Allgemeine, <lb n="pvi_1207.031"/> die Geschichte das Einzelne dar, und das Allgemeine bestimmt er <lb n="pvi_1207.032"/> näher dahin, daß die Reden oder Handlungen, die einem bestimmten <lb n="pvi_1207.033"/> Manne beigelegt werden, Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit haben. Statt <lb n="pvi_1207.034"/> des Letztern würden wir sagen: innere Wahrheit; eine logische Verwirrung <lb n="pvi_1207.035"/> aber liegt darin, daß durch die Worte: „einem bestimmten Manne“ der <lb n="pvi_1207.036"/> Begriff des Einzelnen, der vorher die Geschichte von der Poesie unterscheiden <lb n="pvi_1207.037"/> sollte, gerade auch in diese aufgenommen ist. Aristoteles stellt hiemit <lb n="pvi_1207.038"/> die Forderung auf, daß die allgemeine, innere Wahrheit vereinigt <lb n="pvi_1207.039"/> sei mit dem überzeugenden Ausdruck der Jndividualität; daß das Ewige <lb n="pvi_1207.040"/> sich darstelle als ein Solches, was auch die Energie hat, unter den Bedingungen <lb n="pvi_1207.041"/> der Wirklichkeit zu <hi rendition="#g">sein.</hi> Das Richtige ist, daß sowohl die </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1207/0069]
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in ihren einzelnen, beschränkten Gebieten leistet sie dieß, denn jedes derselben pvi_1207.002
überläßt die Verfolgung gewisser Durchkreuzungen in ihre Causalität einem pvi_1207.003
andern, die Philosophie nur überblickt das Ganze und versöhnt mit jeder pvi_1207.004
Störung jedes Zusammenhangs auf jedem Punct. Jm Reiche des Schönen pvi_1207.005
dagegen wird das Zufällige auf anderem Wege getilgt: es wird in seiner, pvi_1207.006
die jeweilige Linie störenden Form entweder gar nicht zugelassen, als nicht pvi_1207.007
seiend behandelt, oder in ein Furchtbares, ein Komisches aufgehoben, nimmermehr pvi_1207.008
aber durch denkenden Ueberblick des unendlichen Zusammenhangs in pvi_1207.009
Natur und Geschichte auf seine entfernten Nothwendigkeiten zurückgeführt. pvi_1207.010
Hier sind wesentlich die §§. 52 und 53 zu vergleichen. Wie konnte nun pvi_1207.011
W. von Humboldt den falschen Begriff mit seiner richtigen Jdee, daß das pvi_1207.012
Schöne eine Totalität, ein geschlossenes, nur von sich selbst abhängiges pvi_1207.013
Ganzes ist, vereinigen? Er verwechselt die organische Motivirung im pvi_1207.014
Kunstwerk und jenen Charakter der Unendlichkeit, wodurch die Jdealgestalt pvi_1207.015
alle Möglichkeiten, die Keime zu allem Großen in sich trägt, mit dem pvi_1207.016
allseitigen Netze der Begründungen und Beziehungen, worin die Dinge pvi_1207.017
außerhalb des Kunstwerks stehen und wodurch auf dem Standpuncte pvi_1207.018
der Prosa Alles auf Alles hinweist, aber auf andere Weise, nämlich auf pvi_1207.019
Kosten der freien Selbständigkeit.
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Wir werfen noch einen Blick auf ein besonderes Gebiet der Prosa, pvi_1207.021
die Geschichte. Das Wesentliche ist allerdings in anderem Zusammenhange pvi_1207.022
(§. 400) schon vorgebracht und es bleibt nur wenig zu sagen übrig. pvi_1207.023
Die Grundlage des historischen Standpuncts bleibt unbeschadet seines pvi_1207.024
höheren Zieles wesentlich die, daß man erfahre und wisse, was geschehen pvi_1207.025
ist, wogegen der Dichter zur Anschauung bringt, was nie und immer geschieht, pvi_1207.026
jedoch in solcher individueller Bestimmtheit, daß der Zuhörer überzeugt pvi_1207.027
ist, es könne in einer bestimmten Zeit, an bestimmtem Ort so und pvi_1207.028
nicht anders geschehen sein, oder richtiger: es müßte, wenn es geschähe, pvi_1207.029
so und nicht anders geschehen. Aristoteles sagt in der schon zu §. 400 pvi_1207.030
angeführten Stelle der Poetik (C. 9), die Dichtkunst stelle mehr das Allgemeine, pvi_1207.031
die Geschichte das Einzelne dar, und das Allgemeine bestimmt er pvi_1207.032
näher dahin, daß die Reden oder Handlungen, die einem bestimmten pvi_1207.033
Manne beigelegt werden, Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit haben. Statt pvi_1207.034
des Letztern würden wir sagen: innere Wahrheit; eine logische Verwirrung pvi_1207.035
aber liegt darin, daß durch die Worte: „einem bestimmten Manne“ der pvi_1207.036
Begriff des Einzelnen, der vorher die Geschichte von der Poesie unterscheiden pvi_1207.037
sollte, gerade auch in diese aufgenommen ist. Aristoteles stellt hiemit pvi_1207.038
die Forderung auf, daß die allgemeine, innere Wahrheit vereinigt pvi_1207.039
sei mit dem überzeugenden Ausdruck der Jndividualität; daß das Ewige pvi_1207.040
sich darstelle als ein Solches, was auch die Energie hat, unter den Bedingungen pvi_1207.041
der Wirklichkeit zu sein. Das Richtige ist, daß sowohl die
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