Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1204.001 Hiemit ist nun aber nicht nur eine poetische Stylregel aufgestellt, pvi_1204.024
pvi_1204.001 Hiemit ist nun aber nicht nur eine poetische Stylregel aufgestellt, pvi_1204.024 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0066" n="1204"/><lb n="pvi_1204.001"/> hinreicht, um die Phantasie zur Erzeugung eines innern Bildes zu bestimmen. <lb n="pvi_1204.002"/> Der Dichter sage uns also von dem Aeußern einer Person, die er einführt, <lb n="pvi_1204.003"/> zuerst gar nichts, oder nur ein Wort: schön, schlank, einfach oder reich <lb n="pvi_1204.004"/> gekleidet, bewaffnet u. s. w. Nun setze er sie in Handlung und im Zuge <lb n="pvi_1204.005"/> der Handlung nehme er, wie in raschem Vorübergleiten pflückend, einen <lb n="pvi_1204.006"/> Zug auf, z. B.: jetzt blitzte das dunkle, das blaue Auge, schüttelte er die <lb n="pvi_1204.007"/> braunen, die blonden Locken, schlug er die Toga auseinander, hob er das <lb n="pvi_1204.008"/> lange Schwert u. s. w. Später mag dann, um den Zuhörer genauer zu <lb n="pvi_1204.009"/> bestimmen, bei ähnlichem Anlaß ein zweiter, dritter, vierter Zug folgen; <lb n="pvi_1204.010"/> eine Berichtigung, Ergänzung des auf den ersten Zug rasch geschaffenen <lb n="pvi_1204.011"/> Bildes stört ihn nicht, sondern nur eine Zumuthung, langsam und in's <lb n="pvi_1204.012"/> Kleinste hinein gezwungen vorzustellen. – J. Paul gibt (a. a. O. §. 79) <lb n="pvi_1204.013"/> noch zwei Winke: er räth dem Dichter, zu wirken durch Aufhebung, d. h. <lb n="pvi_1204.014"/> indem er eine Gestalt zuerst verhüllt, als eine durch äußere Hindernisse <lb n="pvi_1204.015"/> verdeckte einführt, was die Phantasie doppelt stark reizt, sie sich vorzustellen, <lb n="pvi_1204.016"/> und sie dann erst aufdeckt; ferner durch Contrast der Farben oder Verhältnisse: <lb n="pvi_1204.017"/> wenn z. B. die Alten eine Venus zornig darstellen, so heben die Contraste <lb n="pvi_1204.018"/> stärker ihre Anmuth hervor, als die Verwandtschaftsfarben. Diese Kunstmittel <lb n="pvi_1204.019"/> subsumiren sich ebenfalls unter den Begriff der Bewegung im allgemeinsten <lb n="pvi_1204.020"/> Sinn und haben sich überdieß mit dem Verfahren zu verbinden, <lb n="pvi_1204.021"/> die den Gegenstand in die Bewegung im engern Sinne des Seelenlebens <lb n="pvi_1204.022"/> und der Handlung hineinzieht.</hi> </p> <lb n="pvi_1204.023"/> <p> <hi rendition="#et"> Hiemit ist nun aber nicht nur eine poetische Stylregel aufgestellt, <lb n="pvi_1204.024"/> sondern ein tieferer Blick in das Wesen der Dichtkunst gewonnen. Jn <lb n="pvi_1204.025"/> §. 842 ist die höchste Kraft und Bestimmung derselben ausgesprochen: <lb n="pvi_1204.026"/> Offenbarung der innern Welt, die sich in der Handlung zusammenfaßt; <lb n="pvi_1204.027"/> es ist gesagt, daß hier alles Aeußere in das Jnnere mündet und aus ihm <lb n="pvi_1204.028"/> hervorströmt. Dadurch tritt der Jnhalt des §. 842 mit dem des §. 838 <lb n="pvi_1204.029"/> in eine innere Einheit: die Wiederholung des Standpuncts der bildenden <lb n="pvi_1204.030"/> Kunst auf dem geistigen Boden der Dichtkunst ist nun in erfüllten Zusammenhang <lb n="pvi_1204.031"/> gesetzt mit ihrer eigensten Aufgabe, die innere Welt zu erschließen. <lb n="pvi_1204.032"/> – Sieht man auf die Person des Dichters und den innern Prozeß seiner <lb n="pvi_1204.033"/> Thätigkeit zurück, so begreift man, wie ihm sein eigenes Vorfühlen der <lb n="pvi_1204.034"/> innern Zustände, die er schildert, mit dem Schauen der Gestalten, welche <lb n="pvi_1204.035"/> deren Träger sein sollen, zu einer lebendigen Einheit so zusammenwachsen <lb n="pvi_1204.036"/> wird, daß er sie wohl unwillkürlich sogar mimisch sich vorspielt; daher sagt <lb n="pvi_1204.037"/> Aristoteles (Poetik 17), der Dichter müsse bei der Versetzung in die Leidenschaften <lb n="pvi_1204.038"/> seiner inneren Bewegung selbst mit der Gebärde folgen.</hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1204/0066]
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hinreicht, um die Phantasie zur Erzeugung eines innern Bildes zu bestimmen. pvi_1204.002
Der Dichter sage uns also von dem Aeußern einer Person, die er einführt, pvi_1204.003
zuerst gar nichts, oder nur ein Wort: schön, schlank, einfach oder reich pvi_1204.004
gekleidet, bewaffnet u. s. w. Nun setze er sie in Handlung und im Zuge pvi_1204.005
der Handlung nehme er, wie in raschem Vorübergleiten pflückend, einen pvi_1204.006
Zug auf, z. B.: jetzt blitzte das dunkle, das blaue Auge, schüttelte er die pvi_1204.007
braunen, die blonden Locken, schlug er die Toga auseinander, hob er das pvi_1204.008
lange Schwert u. s. w. Später mag dann, um den Zuhörer genauer zu pvi_1204.009
bestimmen, bei ähnlichem Anlaß ein zweiter, dritter, vierter Zug folgen; pvi_1204.010
eine Berichtigung, Ergänzung des auf den ersten Zug rasch geschaffenen pvi_1204.011
Bildes stört ihn nicht, sondern nur eine Zumuthung, langsam und in's pvi_1204.012
Kleinste hinein gezwungen vorzustellen. – J. Paul gibt (a. a. O. §. 79) pvi_1204.013
noch zwei Winke: er räth dem Dichter, zu wirken durch Aufhebung, d. h. pvi_1204.014
indem er eine Gestalt zuerst verhüllt, als eine durch äußere Hindernisse pvi_1204.015
verdeckte einführt, was die Phantasie doppelt stark reizt, sie sich vorzustellen, pvi_1204.016
und sie dann erst aufdeckt; ferner durch Contrast der Farben oder Verhältnisse: pvi_1204.017
wenn z. B. die Alten eine Venus zornig darstellen, so heben die Contraste pvi_1204.018
stärker ihre Anmuth hervor, als die Verwandtschaftsfarben. Diese Kunstmittel pvi_1204.019
subsumiren sich ebenfalls unter den Begriff der Bewegung im allgemeinsten pvi_1204.020
Sinn und haben sich überdieß mit dem Verfahren zu verbinden, pvi_1204.021
die den Gegenstand in die Bewegung im engern Sinne des Seelenlebens pvi_1204.022
und der Handlung hineinzieht.
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Hiemit ist nun aber nicht nur eine poetische Stylregel aufgestellt, pvi_1204.024
sondern ein tieferer Blick in das Wesen der Dichtkunst gewonnen. Jn pvi_1204.025
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in eine innere Einheit: die Wiederholung des Standpuncts der bildenden pvi_1204.030
Kunst auf dem geistigen Boden der Dichtkunst ist nun in erfüllten Zusammenhang pvi_1204.031
gesetzt mit ihrer eigensten Aufgabe, die innere Welt zu erschließen. pvi_1204.032
– Sieht man auf die Person des Dichters und den innern Prozeß seiner pvi_1204.033
Thätigkeit zurück, so begreift man, wie ihm sein eigenes Vorfühlen der pvi_1204.034
innern Zustände, die er schildert, mit dem Schauen der Gestalten, welche pvi_1204.035
deren Träger sein sollen, zu einer lebendigen Einheit so zusammenwachsen pvi_1204.036
wird, daß er sie wohl unwillkürlich sogar mimisch sich vorspielt; daher sagt pvi_1204.037
Aristoteles (Poetik 17), der Dichter müsse bei der Versetzung in die Leidenschaften pvi_1204.038
seiner inneren Bewegung selbst mit der Gebärde folgen.
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