Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1201.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0063" n="1201"/><lb n="pvi_1201.001"/> kann an sich ganz wohl ein ruhender sein und die Mittheilungsform der <lb n="pvi_1201.002"/> Rede ist dadurch, daß sie successiv schildert, an sich nicht unfähig, den Geist <lb n="pvi_1201.003"/> in der Weise zu bestimmen, daß er sich das Bild eines solchen räumlich fest <lb n="pvi_1201.004"/> ausgebreiteten Ganzen erzeuge. Lessing bemerkt richtig, daß bei Beschreibungen <lb n="pvi_1201.005"/> für prosaische Zwecke das allmälige Aufreihen von Zügen kein Hinderniß für <lb n="pvi_1201.006"/> den Leser ist, sich aus ihnen ein Bild zusammenzufügen (a. a. O. Cap. 17). <lb n="pvi_1201.007"/> Natürlich ermangelt ein also zusammengesetztes Bild der Wärme, der Jdealität. <lb n="pvi_1201.008"/> Und hier sitzt denn das Wesentliche: im Gebiete der Kunst will auch die <lb n="pvi_1201.009"/> empfangende Phantasie zeugend, nachschaffend sich verhalten; sie ist in diese <lb n="pvi_1201.010"/> Stimmung, diese Selbstthätigkeit von Anfang an durch den Dichter versetzt. <lb n="pvi_1201.011"/> Einmal selbstthätig erzeugt sie sich nun auf Eine richtige Berührung des <lb n="pvi_1201.012"/> poetischen Zauberstabs in Einem Augenblick das von dem Dichter beabsichtigte <lb n="pvi_1201.013"/> Bild mit seiner Vielheit von Zügen, richtiger: nur das seiner Absicht irgendwie <lb n="pvi_1201.014"/> entsprechende, denn hier tritt ein wesentlicher weiterer Unterscheidungszug <lb n="pvi_1201.015"/> der Dichtkunst auf: der bildende Künstler schreibt dem Zuschauer das Bild <lb n="pvi_1201.016"/> genau vor, indem er es ihm sichtbar ausgeführt vor das äußere Auge stellt; <lb n="pvi_1201.017"/> der Zuschauer ist hierin <hi rendition="#g">unfrei;</hi> worin er frei ist, das ist die innere Erzeugung <lb n="pvi_1201.018"/> eines Bildes der Reihe von <hi rendition="#g">Bewegungen,</hi> die dem dargestellten <lb n="pvi_1201.019"/> Momente vorangehen und folgen; der Dichter dagegen schreibt dem Zuhörer <lb n="pvi_1201.020"/> das Successive, das Wesentliche der Bewegung, den Gang des Ganzen <lb n="pvi_1201.021"/> vor, da ist der Erstere hierin unfrei; dagegen gibt er ihm zur Erzeugung <lb n="pvi_1201.022"/> des innern Bildes in seiner qualitativen Gestaltung nur den Anstoß: darin <lb n="pvi_1201.023"/> ist der Zuhörer also hier ungleich <hi rendition="#g">freier,</hi> als in der bildenden Kunst. Es <lb n="pvi_1201.024"/> verschlägt auch nichts, wenn dieser sich die Gestalt etwas anders, als jener, <lb n="pvi_1201.025"/> vorstellt, wenn nur die Grundzüge im Bewegungscharakter der Absicht des <lb n="pvi_1201.026"/> Dichters entsprechen. Wenn die Amme in Romeo und Julie in eitlem Putz <lb n="pvi_1201.027"/> angestiegen kommt, den Auftrag Juliens an Romeo zu bestellen, und anfängt: <lb n="pvi_1201.028"/> „Peter, meinen Fächer!“ so mag sie sich der Eine größer, der Andere <lb n="pvi_1201.029"/> kleiner, jener in diese, dieser in jene Farbe gekleidet vorstellen: nur ein ganz <lb n="pvi_1201.030"/> stumpfer Leser wird nicht augenblicklich ein in den wesentlichen Zügen richtiges <lb n="pvi_1201.031"/> Bild der närrischen, treuen und gemeinen, geschwätzigen und verschwiegenen, <lb n="pvi_1201.032"/> kupplerischen, in Runzeln noch eiteln, aufgeputzten Alten vor sich haben, <lb n="pvi_1201.033"/> wie sie mit koketten Schwenkungen der Hüfte und steilem Kopfe die vornehme <lb n="pvi_1201.034"/> Dame affectirt. Die Phantasie will also in der Dichtkunst schlechterdings <lb n="pvi_1201.035"/> nicht aufgehalten und gezwungen sein. Verkennt dieß der Dichter, <lb n="pvi_1201.036"/> so kommt nicht eigentlich „das Coexistirende des Körperlichen mit dem <lb n="pvi_1201.037"/> Consecutiven der Rede in Collision,“ sondern die windschnelle, eine Vielheit <lb n="pvi_1201.038"/> von Zügen auf Einen Schlag vor sich ausbreitende Bewegung und die <lb n="pvi_1201.039"/> Freiheit der Phantasie mit der Langsamkeit, womit die Rede fortrückt, und <lb n="pvi_1201.040"/> mit dem Zwange, den ihr Ausmalen auflegt. Der Dichter verfährt dann, <lb n="pvi_1201.041"/> als stünde sein Zuhörer vor einem aufgehängten Bilde, faßte nach dem </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1201/0063]
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kann an sich ganz wohl ein ruhender sein und die Mittheilungsform der pvi_1201.002
Rede ist dadurch, daß sie successiv schildert, an sich nicht unfähig, den Geist pvi_1201.003
in der Weise zu bestimmen, daß er sich das Bild eines solchen räumlich fest pvi_1201.004
ausgebreiteten Ganzen erzeuge. Lessing bemerkt richtig, daß bei Beschreibungen pvi_1201.005
für prosaische Zwecke das allmälige Aufreihen von Zügen kein Hinderniß für pvi_1201.006
den Leser ist, sich aus ihnen ein Bild zusammenzufügen (a. a. O. Cap. 17). pvi_1201.007
Natürlich ermangelt ein also zusammengesetztes Bild der Wärme, der Jdealität. pvi_1201.008
Und hier sitzt denn das Wesentliche: im Gebiete der Kunst will auch die pvi_1201.009
empfangende Phantasie zeugend, nachschaffend sich verhalten; sie ist in diese pvi_1201.010
Stimmung, diese Selbstthätigkeit von Anfang an durch den Dichter versetzt. pvi_1201.011
Einmal selbstthätig erzeugt sie sich nun auf Eine richtige Berührung des pvi_1201.012
poetischen Zauberstabs in Einem Augenblick das von dem Dichter beabsichtigte pvi_1201.013
Bild mit seiner Vielheit von Zügen, richtiger: nur das seiner Absicht irgendwie pvi_1201.014
entsprechende, denn hier tritt ein wesentlicher weiterer Unterscheidungszug pvi_1201.015
der Dichtkunst auf: der bildende Künstler schreibt dem Zuschauer das Bild pvi_1201.016
genau vor, indem er es ihm sichtbar ausgeführt vor das äußere Auge stellt; pvi_1201.017
der Zuschauer ist hierin unfrei; worin er frei ist, das ist die innere Erzeugung pvi_1201.018
eines Bildes der Reihe von Bewegungen, die dem dargestellten pvi_1201.019
Momente vorangehen und folgen; der Dichter dagegen schreibt dem Zuhörer pvi_1201.020
das Successive, das Wesentliche der Bewegung, den Gang des Ganzen pvi_1201.021
vor, da ist der Erstere hierin unfrei; dagegen gibt er ihm zur Erzeugung pvi_1201.022
des innern Bildes in seiner qualitativen Gestaltung nur den Anstoß: darin pvi_1201.023
ist der Zuhörer also hier ungleich freier, als in der bildenden Kunst. Es pvi_1201.024
verschlägt auch nichts, wenn dieser sich die Gestalt etwas anders, als jener, pvi_1201.025
vorstellt, wenn nur die Grundzüge im Bewegungscharakter der Absicht des pvi_1201.026
Dichters entsprechen. Wenn die Amme in Romeo und Julie in eitlem Putz pvi_1201.027
angestiegen kommt, den Auftrag Juliens an Romeo zu bestellen, und anfängt: pvi_1201.028
„Peter, meinen Fächer!“ so mag sie sich der Eine größer, der Andere pvi_1201.029
kleiner, jener in diese, dieser in jene Farbe gekleidet vorstellen: nur ein ganz pvi_1201.030
stumpfer Leser wird nicht augenblicklich ein in den wesentlichen Zügen richtiges pvi_1201.031
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kupplerischen, in Runzeln noch eiteln, aufgeputzten Alten vor sich haben, pvi_1201.033
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Dame affectirt. Die Phantasie will also in der Dichtkunst schlechterdings pvi_1201.035
nicht aufgehalten und gezwungen sein. Verkennt dieß der Dichter, pvi_1201.036
so kommt nicht eigentlich „das Coexistirende des Körperlichen mit dem pvi_1201.037
Consecutiven der Rede in Collision,“ sondern die windschnelle, eine Vielheit pvi_1201.038
von Zügen auf Einen Schlag vor sich ausbreitende Bewegung und die pvi_1201.039
Freiheit der Phantasie mit der Langsamkeit, womit die Rede fortrückt, und pvi_1201.040
mit dem Zwange, den ihr Ausmalen auflegt. Der Dichter verfährt dann, pvi_1201.041
als stünde sein Zuhörer vor einem aufgehängten Bilde, faßte nach dem
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