Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1193.001 §. 845. pvi_1193.039Vermöge dieser Eigenschaften kommt der Poesie der Charakter der Allgemeinheit pvi_1193.040
pvi_1193.001 §. 845. pvi_1193.039Vermöge dieser Eigenschaften kommt der Poesie der Charakter der Allgemeinheit pvi_1193.040 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0055" n="1193"/><lb n="pvi_1193.001"/> Fuge die eine oder andere Welt des Charakters der Bewegung zu der seinigen <lb n="pvi_1193.002"/> machen können. Hiemit haben wir aber die Frage bereits in ihren <lb n="pvi_1193.003"/> wahren Mittelpunct, in das Jnnere, in die Form des Seelenlebens geführt, <lb n="pvi_1193.004"/> indem wir die Anmuth der Bewegung sogleich mit ihrem innern Grunde, <lb n="pvi_1193.005"/> der Schönheit der Gemüths-Einfalt, zusammennehmen mußten. Nun ist <lb n="pvi_1193.006"/> nach allem Obigen keine Frage, daß die Poesie unendlich erweiterte Mittel <lb n="pvi_1193.007"/> besitzt, jede verwickeltste Brechung des einfach schönen Seelenlebens, das sich <lb n="pvi_1193.008"/> mit der Sinnlichkeit in gediegener Harmonie ergeht, in alle ihre Ecken und <lb n="pvi_1193.009"/> Härten zu verfolgen, und der Besitz dieser Mittel ist natürlich zugleich der <lb n="pvi_1193.010"/> Wille, sie anzuwenden; allein man übersehe nicht, daß jene Welt des Gemüthslebens <lb n="pvi_1193.011"/> nur auf dem vergleichenden Standpunct einfach, ungebrochen, <lb n="pvi_1193.012"/> harmonisch ist, daß sie an sich ein bewegtes Leben voll von Kämpfen bis <lb n="pvi_1193.013"/> zu den äußersten tragischen Conflicten umfassen kann, Alles mit nur weniger <lb n="pvi_1193.014"/> vertiefter Resonanz und daher in gewissen Grenzen der Form, welche die <lb n="pvi_1193.015"/> unzartere Ausbiegung, den schrofferen Sprung von einer Stimmung in die <lb n="pvi_1193.016"/> andere, den tieferen Griff in die Härte der Lebensbedingungen ausschließen. <lb n="pvi_1193.017"/> Die Poesie muß nun gerade einen besondern Beruf in sich tragen, die <lb n="pvi_1193.018"/> Bewegtheit, welche auch dieser Lebensform zukommt, mit dem Umfang ihrer <lb n="pvi_1193.019"/> Mittel zu entfalten, wie es die Malerei, ohne ihre Mittel von ihrem wahren <lb n="pvi_1193.020"/> Ziele zurückzuhalten, nicht vermag, einen Beruf, zu zeigen, daß eine Welt, die <lb n="pvi_1193.021"/> für den Maler zu leise, zu ungesalzen ist, unter ihrer Hand auflebt, sich vertieft <lb n="pvi_1193.022"/> und erweitert, die volle Würze stark wirkender Gegensätze empfängt. Kurz <lb n="pvi_1193.023"/> das Verhältniß ist dieses: der plastische Standpunct hindert die Malerei, <lb n="pvi_1193.024"/> wenn er auf sie übergetragen wird, an der vollen Ausbildung ihres Wesens <lb n="pvi_1193.025"/> als spezifische Kunstform, aber nicht ebenso die Dichtkunst: sie kann eine <lb n="pvi_1193.026"/> Welt von Statuen, worin wie in der Sculptur das Gesetz gilt, daß die <lb n="pvi_1193.027"/> einzelne Gestalt schön sei, beseelen und nach allen Seiten beleben, weil sie <lb n="pvi_1193.028"/> die Sprache und die wirkliche Bewegung in der Macht hat. Diese Auffassung <lb n="pvi_1193.029"/> wird sich dann über alle Seiten der Behandlung des Stoffs erstrecken: <lb n="pvi_1193.030"/> wie die einzelne geschilderte Persönlichkeit, so die Welt, die Culturformen, <lb n="pvi_1193.031"/> die Natur umher, so in der künstlerischen Form an sich die Sprache, <lb n="pvi_1193.032"/> die ganze Composition; Alles wird Ausdruck der „folgerechten, Uebereinstimmung <lb n="pvi_1193.033"/> liebenden Denkart“ sein, welcher Mercutio und die Amme in <lb n="pvi_1193.034"/> Romeo und Julie als „possenhafte Jntermezzisten unerträglich sind“ (Göthe's <lb n="pvi_1193.035"/> W. B. 45, S. 54). – Der hier aufgestellte Satz wird seine nähere Anwendung <lb n="pvi_1193.036"/> in dem Abschnitt über den poetischen Styl finden und hier die <lb n="pvi_1193.037"/> ganze Bedeutung seiner Consequenzen zu Tage treten.</hi> </p> <lb n="pvi_1193.038"/> <p> <hi rendition="#c">§. 845.</hi> </p> <lb n="pvi_1193.039"/> <p> Vermöge dieser Eigenschaften kommt der Poesie der Charakter der <hi rendition="#g">Allgemeinheit</hi> <lb n="pvi_1193.040"/> zu; sie stellt gegenüber den andern Künsten den <hi rendition="#g">Begriff der </hi></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1193/0055]
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Fuge die eine oder andere Welt des Charakters der Bewegung zu der seinigen pvi_1193.002
machen können. Hiemit haben wir aber die Frage bereits in ihren pvi_1193.003
wahren Mittelpunct, in das Jnnere, in die Form des Seelenlebens geführt, pvi_1193.004
indem wir die Anmuth der Bewegung sogleich mit ihrem innern Grunde, pvi_1193.005
der Schönheit der Gemüths-Einfalt, zusammennehmen mußten. Nun ist pvi_1193.006
nach allem Obigen keine Frage, daß die Poesie unendlich erweiterte Mittel pvi_1193.007
besitzt, jede verwickeltste Brechung des einfach schönen Seelenlebens, das sich pvi_1193.008
mit der Sinnlichkeit in gediegener Harmonie ergeht, in alle ihre Ecken und pvi_1193.009
Härten zu verfolgen, und der Besitz dieser Mittel ist natürlich zugleich der pvi_1193.010
Wille, sie anzuwenden; allein man übersehe nicht, daß jene Welt des Gemüthslebens pvi_1193.011
nur auf dem vergleichenden Standpunct einfach, ungebrochen, pvi_1193.012
harmonisch ist, daß sie an sich ein bewegtes Leben voll von Kämpfen bis pvi_1193.013
zu den äußersten tragischen Conflicten umfassen kann, Alles mit nur weniger pvi_1193.014
vertiefter Resonanz und daher in gewissen Grenzen der Form, welche die pvi_1193.015
unzartere Ausbiegung, den schrofferen Sprung von einer Stimmung in die pvi_1193.016
andere, den tieferen Griff in die Härte der Lebensbedingungen ausschließen. pvi_1193.017
Die Poesie muß nun gerade einen besondern Beruf in sich tragen, die pvi_1193.018
Bewegtheit, welche auch dieser Lebensform zukommt, mit dem Umfang ihrer pvi_1193.019
Mittel zu entfalten, wie es die Malerei, ohne ihre Mittel von ihrem wahren pvi_1193.020
Ziele zurückzuhalten, nicht vermag, einen Beruf, zu zeigen, daß eine Welt, die pvi_1193.021
für den Maler zu leise, zu ungesalzen ist, unter ihrer Hand auflebt, sich vertieft pvi_1193.022
und erweitert, die volle Würze stark wirkender Gegensätze empfängt. Kurz pvi_1193.023
das Verhältniß ist dieses: der plastische Standpunct hindert die Malerei, pvi_1193.024
wenn er auf sie übergetragen wird, an der vollen Ausbildung ihres Wesens pvi_1193.025
als spezifische Kunstform, aber nicht ebenso die Dichtkunst: sie kann eine pvi_1193.026
Welt von Statuen, worin wie in der Sculptur das Gesetz gilt, daß die pvi_1193.027
einzelne Gestalt schön sei, beseelen und nach allen Seiten beleben, weil sie pvi_1193.028
die Sprache und die wirkliche Bewegung in der Macht hat. Diese Auffassung pvi_1193.029
wird sich dann über alle Seiten der Behandlung des Stoffs erstrecken: pvi_1193.030
wie die einzelne geschilderte Persönlichkeit, so die Welt, die Culturformen, pvi_1193.031
die Natur umher, so in der künstlerischen Form an sich die Sprache, pvi_1193.032
die ganze Composition; Alles wird Ausdruck der „folgerechten, Uebereinstimmung pvi_1193.033
liebenden Denkart“ sein, welcher Mercutio und die Amme in pvi_1193.034
Romeo und Julie als „possenhafte Jntermezzisten unerträglich sind“ (Göthe's pvi_1193.035
W. B. 45, S. 54). – Der hier aufgestellte Satz wird seine nähere Anwendung pvi_1193.036
in dem Abschnitt über den poetischen Styl finden und hier die pvi_1193.037
ganze Bedeutung seiner Consequenzen zu Tage treten.
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Vermöge dieser Eigenschaften kommt der Poesie der Charakter der Allgemeinheit pvi_1193.040
zu; sie stellt gegenüber den andern Künsten den Begriff der
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