Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1186.001 2. Es ist ausdrücklich hervorzuheben, daß die Dichtkunst fähig und berechtigt pvi_1186.036
pvi_1186.001 2. Es ist ausdrücklich hervorzuheben, daß die Dichtkunst fähig und berechtigt pvi_1186.036 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0048" n="1186"/><lb n="pvi_1186.001"/> Folgen von solchen, an bestehende Zustände als Product des Gemeinwillens <lb n="pvi_1186.002"/> in weit verwickelter Wechselwirkung mit den Bedingungen der umgebenden <lb n="pvi_1186.003"/> Natur u. s. w. Ueberhaupt wird die Poesie verschiedene Formen treiben, <lb n="pvi_1186.004"/> deren eine mittelbarer, die andere unmittelbarer die innere Einheit der Weltanschauung <lb n="pvi_1186.005"/> dieser Kunst bis zu solcher Straffheit entwickelt, und es ist das <lb n="pvi_1186.006"/> hier erst Angedeutete in der Lehre von den Zweigen wieder aufzunehmen. – <lb n="pvi_1186.007"/> Auch die Persönlichkeit des Dichters ist hier noch einmal in's Auge zu <lb n="pvi_1186.008"/> fassen: was zu §. 385, §. 389 Anm. 2. §. 393, 2. als Bedingung der <lb n="pvi_1186.009"/> Phantasiethätigkeit überhaupt aufgestellt ist: ein reiches Erfahrungsleben, <lb n="pvi_1186.010"/> das gilt ebenfalls mit besonderem Nachdruck dem Dichter. Da in seiner <lb n="pvi_1186.011"/> Künstlerhand alles Leben zum Seelenleben werden, da er die ganze Außenwelt <lb n="pvi_1186.012"/> in's Jnnere führen und wenden soll, so muß er mit dem scharfen <lb n="pvi_1186.013"/> Auge der objectiven Anschauung den lebendigsten Nerv der Theilnahme vereinigen <lb n="pvi_1186.014"/> und dieß kann er nicht, ohne in den Strudel des Lebens, das Meer <lb n="pvi_1186.015"/> der Leidenschaften und tiefsten Kämpfe selbst hineingerissen zu werden. Wessen <lb n="pvi_1186.016"/> Brust das Leben nicht durchwühlt, wer nicht der Menschheit ganzes Wohl <lb n="pvi_1186.017"/> und Wehe erlebt hat, ist kein Dichter. Es ist nicht vorausgesetzt, daß buchstäblich <lb n="pvi_1186.018"/> alles Schwerste, Aufregendste erlebt sei, dem Dichter-Gemüthe kann zum <lb n="pvi_1186.019"/> Himmel und zur Hölle werden, was Andere nur leicht anstreift, aber genug <lb n="pvi_1186.020"/> muß erlebt sein, um sich in jedes Glied der Kette menschlicher Erfahrungen <lb n="pvi_1186.021"/> lebendig versetzen zu können. Um so stärker ist aber auch die andere Forderung <lb n="pvi_1186.022"/> festzuhalten: wer aus dem wühlenden Kampfe nicht gesammelt und <lb n="pvi_1186.023"/> geläutert hervorgegangen ist, der ist auch kein Dichter, denn wir brauchen <lb n="pvi_1186.024"/> nicht auf's Neue zu beweisen, daß das eigene Jnnere nicht mehr stoffartig <lb n="pvi_1186.025"/> mit einer Leidenschaft verwachsen sein darf, wenn sie zum künstlerischen Stoffe <lb n="pvi_1186.026"/> werden soll. Shakespeare's Sonette geben einen höchst merkwürdigen Blick <lb n="pvi_1186.027"/> in ein Gemüth, das von furchtbaren Kämpfen durchwühlt ist, aber sich mit <lb n="pvi_1186.028"/> der strengsten ethischen Kraft der Selbstbestimmung daraus emporarbeitet <lb n="pvi_1186.029"/> und Verjüngung aus dem trinkt, was Vernichtung drohte; Tieck hat dieß <lb n="pvi_1186.030"/> im Dichterleben tiefsinnig verwendet und und durch Zusammenstellung mit <lb n="pvi_1186.031"/> R. Green und Marlowe dem Erhebungsprozeß Shakespeare's die künstlerische <lb n="pvi_1186.032"/> Folie gegeben. Ein durchaus normales Bild für den Satz, von dem es <lb n="pvi_1186.033"/> sich hier handelt, ist auch Göthe's Leben, namentlich die Entstehung von <lb n="pvi_1186.034"/> Werther's Leiden, worauf schon in Anm. 2. zu §. 393 hingewiesen ist.</hi> </p> <lb n="pvi_1186.035"/> <p> <hi rendition="#et"> 2. Es ist ausdrücklich hervorzuheben, daß die Dichtkunst fähig und berechtigt <lb n="pvi_1186.036"/> ist, auch Abstractes auszusprechen. Es steht dieß nicht in Widerspruch <lb n="pvi_1186.037"/> mit §. 16, welcher strenge die Verwechslung der Jdee mit dem <lb n="pvi_1186.038"/> abstracten Begriff ausschließt, denn dort ist die Rede vom Mittelpunct eines <lb n="pvi_1186.039"/> ästhetischen Ganzen, hier von Solchem, was nur als Moment im Verlaufe <lb n="pvi_1186.040"/> dieses Ganzen auftritt. Natürlich muß ein solches, an sich prosaisches, <lb n="pvi_1186.041"/> Moment in sichtbarem Zusammenhang von Grund oder Folge mit dem </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1186/0048]
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Folgen von solchen, an bestehende Zustände als Product des Gemeinwillens pvi_1186.002
in weit verwickelter Wechselwirkung mit den Bedingungen der umgebenden pvi_1186.003
Natur u. s. w. Ueberhaupt wird die Poesie verschiedene Formen treiben, pvi_1186.004
deren eine mittelbarer, die andere unmittelbarer die innere Einheit der Weltanschauung pvi_1186.005
dieser Kunst bis zu solcher Straffheit entwickelt, und es ist das pvi_1186.006
hier erst Angedeutete in der Lehre von den Zweigen wieder aufzunehmen. – pvi_1186.007
Auch die Persönlichkeit des Dichters ist hier noch einmal in's Auge zu pvi_1186.008
fassen: was zu §. 385, §. 389 Anm. 2. §. 393, 2. als Bedingung der pvi_1186.009
Phantasiethätigkeit überhaupt aufgestellt ist: ein reiches Erfahrungsleben, pvi_1186.010
das gilt ebenfalls mit besonderem Nachdruck dem Dichter. Da in seiner pvi_1186.011
Künstlerhand alles Leben zum Seelenleben werden, da er die ganze Außenwelt pvi_1186.012
in's Jnnere führen und wenden soll, so muß er mit dem scharfen pvi_1186.013
Auge der objectiven Anschauung den lebendigsten Nerv der Theilnahme vereinigen pvi_1186.014
und dieß kann er nicht, ohne in den Strudel des Lebens, das Meer pvi_1186.015
der Leidenschaften und tiefsten Kämpfe selbst hineingerissen zu werden. Wessen pvi_1186.016
Brust das Leben nicht durchwühlt, wer nicht der Menschheit ganzes Wohl pvi_1186.017
und Wehe erlebt hat, ist kein Dichter. Es ist nicht vorausgesetzt, daß buchstäblich pvi_1186.018
alles Schwerste, Aufregendste erlebt sei, dem Dichter-Gemüthe kann zum pvi_1186.019
Himmel und zur Hölle werden, was Andere nur leicht anstreift, aber genug pvi_1186.020
muß erlebt sein, um sich in jedes Glied der Kette menschlicher Erfahrungen pvi_1186.021
lebendig versetzen zu können. Um so stärker ist aber auch die andere Forderung pvi_1186.022
festzuhalten: wer aus dem wühlenden Kampfe nicht gesammelt und pvi_1186.023
geläutert hervorgegangen ist, der ist auch kein Dichter, denn wir brauchen pvi_1186.024
nicht auf's Neue zu beweisen, daß das eigene Jnnere nicht mehr stoffartig pvi_1186.025
mit einer Leidenschaft verwachsen sein darf, wenn sie zum künstlerischen Stoffe pvi_1186.026
werden soll. Shakespeare's Sonette geben einen höchst merkwürdigen Blick pvi_1186.027
in ein Gemüth, das von furchtbaren Kämpfen durchwühlt ist, aber sich mit pvi_1186.028
der strengsten ethischen Kraft der Selbstbestimmung daraus emporarbeitet pvi_1186.029
und Verjüngung aus dem trinkt, was Vernichtung drohte; Tieck hat dieß pvi_1186.030
im Dichterleben tiefsinnig verwendet und und durch Zusammenstellung mit pvi_1186.031
R. Green und Marlowe dem Erhebungsprozeß Shakespeare's die künstlerische pvi_1186.032
Folie gegeben. Ein durchaus normales Bild für den Satz, von dem es pvi_1186.033
sich hier handelt, ist auch Göthe's Leben, namentlich die Entstehung von pvi_1186.034
Werther's Leiden, worauf schon in Anm. 2. zu §. 393 hingewiesen ist.
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2. Es ist ausdrücklich hervorzuheben, daß die Dichtkunst fähig und berechtigt pvi_1186.036
ist, auch Abstractes auszusprechen. Es steht dieß nicht in Widerspruch pvi_1186.037
mit §. 16, welcher strenge die Verwechslung der Jdee mit dem pvi_1186.038
abstracten Begriff ausschließt, denn dort ist die Rede vom Mittelpunct eines pvi_1186.039
ästhetischen Ganzen, hier von Solchem, was nur als Moment im Verlaufe pvi_1186.040
dieses Ganzen auftritt. Natürlich muß ein solches, an sich prosaisches, pvi_1186.041
Moment in sichtbarem Zusammenhang von Grund oder Folge mit dem
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