Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1183.001 Ein Theil des großen Vorsprungs der Poesie, nicht in Eroberung pvi_1183.002 pvi_1183.001 Ein Theil des großen Vorsprungs der Poesie, nicht in Eroberung pvi_1183.002 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0045" n="1183"/> <lb n="pvi_1183.001"/> <p> <hi rendition="#et"> Ein Theil des großen Vorsprungs der Poesie, nicht in Eroberung <lb n="pvi_1183.002"/> neuer, aber unendlich neuer Erschöpfung der Erscheinungsgebiete, worin die <lb n="pvi_1183.003"/> andern Künste sich bewegen, ist allerdings schon in §. 838 aufgeführt; der <lb n="pvi_1183.004"/> Zuwachs an Ausdehnung über alle Art von Jnhalt, wurde schon dort hervorgehoben, <lb n="pvi_1183.005"/> um dann zunächst die Verluste auf demselben Boden nachzuweisen, <lb n="pvi_1183.006"/> hierauf aber nunmehr zu dem absoluten Gewinn aufzusteigen, der <lb n="pvi_1183.007"/> für diese Verluste entschädigt. Der quantitative Umfang des Darstellbaren, <lb n="pvi_1183.008"/> von welchem dort die Rede war, ist denn eine an sich zwar höchst bedeutende, <lb n="pvi_1183.009"/> verglichen jedoch mit dem unendlichen Gewinne, von dem jetzt die Rede ist, <lb n="pvi_1183.010"/> noch untergeordnete Eroberung. Die Poesie hat gewonnen eine Einheit <lb n="pvi_1183.011"/> des Nebeneinander im Raume und des Nacheinander in der Zeit. Das <lb n="pvi_1183.012"/> Werk der bildenden Kunst fesselt einen Zeitmoment im Raume, der Zuschauer <lb n="pvi_1183.013"/> löst wohl durch seine Phantasie diese Fessel wieder, indem er sich aus dem <lb n="pvi_1183.014"/> fruchtbaren Momente, den der Künstler gewählt hat, die vorhergehenden <lb n="pvi_1183.015"/> und folgenden entwickelt; er thut dieß aber, obwohl auf Anlaß, doch nicht <lb n="pvi_1183.016"/> unter Anleitung des Künstlers, es ist also zufällig, ob er dieß Vorher und <lb n="pvi_1183.017"/> Nachher sich richtig oder falsch, schön oder unschön vergegenwärtigt und wie <lb n="pvi_1183.018"/> weit er es fortführt, ja was das Letztere betrifft, so ist überhaupt gar nicht <lb n="pvi_1183.019"/> zu bestimmen, an welchem Puncte dieser Reihe seine Phantasie umbiegen <lb n="pvi_1183.020"/> und zu der unentwickelten Sammlung von Momenten in Einem entwickelten, <lb n="pvi_1183.021"/> die ihm das Kunstwerk vor Augen stellt, zurückkehren soll. Man erkennt, <lb n="pvi_1183.022"/> daß dieß trotz allem Charakter klarer Abgeschlossenheit ein Grundzug von <lb n="pvi_1183.023"/> Unreife, Unvollendung ist, welcher der bildenden Kunst anhängt. Der Dichter <lb n="pvi_1183.024"/> dagegen gibt die Reihe wirklich, er überläßt sie nicht der ungewissen Fähigkeit <lb n="pvi_1183.025"/> der allgemeinen Phantasie, er führt sie künstlerisch gebildet an unserem <lb n="pvi_1183.026"/> innern Anschauen vorüber, beginnt und schließt sie, wo der innere Einheits= <lb n="pvi_1183.027"/> und Lebenspunct seines Kunstwerks es verlangt; wir sehen den Apollo von <lb n="pvi_1183.028"/> Belvedere nicht nur, wie er abgeschossen hat und dem Schusse triumphirend <lb n="pvi_1183.029"/> nachblickt, den Laokoon nicht nur, wie er von den Schlangen umschnürt in <lb n="pvi_1183.030"/> Todesschmerz aufstöhnt, sondern jenen, wie er den Feind ersieht, wie er <lb n="pvi_1183.031"/> schießt und nachher in seiner Götterruhe zurückkehrt, diesen, wie er die dämonischen <lb n="pvi_1183.032"/> Thiere mit Grauen erblickt, sich mit seinen Söhnen auf den <lb n="pvi_1183.033"/> Altar flüchtet, erfaßt wird und wie er nach den letzten tödtlichen Bissen <lb n="pvi_1183.034"/> mit ihnen, eine tragische Leichengruppe, hingestreckt liegt. Nun erst nehme <lb n="pvi_1183.035"/> man wieder den rein quantitativen Gewinn hinzu, welcher schon in §. 838 <lb n="pvi_1183.036"/> hervorgehoben ist: ebenso bewegt, wie die Figur oder Gruppe, die je zunächst <lb n="pvi_1183.037"/> den Mittelpunct seiner Darstellung bildet, gibt uns der Dichter Alles mit, <lb n="pvi_1183.038"/> was rings diese Gruppe umgibt, soweit es ihm ästhetisch beliebt, seinen <lb n="pvi_1183.039"/> Kreis zu ziehen, und dieß gefüllte Ganze führt er dann zu den weiteren Momenten <lb n="pvi_1183.040"/> fort; eine ganze breite Masse der verschiedensten Gegenstände in den <lb n="pvi_1183.041"/> verschiedensten Zuständen und Stimmungen kann er vor uns hinführen, </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1183/0045]
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Ein Theil des großen Vorsprungs der Poesie, nicht in Eroberung pvi_1183.002
neuer, aber unendlich neuer Erschöpfung der Erscheinungsgebiete, worin die pvi_1183.003
andern Künste sich bewegen, ist allerdings schon in §. 838 aufgeführt; der pvi_1183.004
Zuwachs an Ausdehnung über alle Art von Jnhalt, wurde schon dort hervorgehoben, pvi_1183.005
um dann zunächst die Verluste auf demselben Boden nachzuweisen, pvi_1183.006
hierauf aber nunmehr zu dem absoluten Gewinn aufzusteigen, der pvi_1183.007
für diese Verluste entschädigt. Der quantitative Umfang des Darstellbaren, pvi_1183.008
von welchem dort die Rede war, ist denn eine an sich zwar höchst bedeutende, pvi_1183.009
verglichen jedoch mit dem unendlichen Gewinne, von dem jetzt die Rede ist, pvi_1183.010
noch untergeordnete Eroberung. Die Poesie hat gewonnen eine Einheit pvi_1183.011
des Nebeneinander im Raume und des Nacheinander in der Zeit. Das pvi_1183.012
Werk der bildenden Kunst fesselt einen Zeitmoment im Raume, der Zuschauer pvi_1183.013
löst wohl durch seine Phantasie diese Fessel wieder, indem er sich aus dem pvi_1183.014
fruchtbaren Momente, den der Künstler gewählt hat, die vorhergehenden pvi_1183.015
und folgenden entwickelt; er thut dieß aber, obwohl auf Anlaß, doch nicht pvi_1183.016
unter Anleitung des Künstlers, es ist also zufällig, ob er dieß Vorher und pvi_1183.017
Nachher sich richtig oder falsch, schön oder unschön vergegenwärtigt und wie pvi_1183.018
weit er es fortführt, ja was das Letztere betrifft, so ist überhaupt gar nicht pvi_1183.019
zu bestimmen, an welchem Puncte dieser Reihe seine Phantasie umbiegen pvi_1183.020
und zu der unentwickelten Sammlung von Momenten in Einem entwickelten, pvi_1183.021
die ihm das Kunstwerk vor Augen stellt, zurückkehren soll. Man erkennt, pvi_1183.022
daß dieß trotz allem Charakter klarer Abgeschlossenheit ein Grundzug von pvi_1183.023
Unreife, Unvollendung ist, welcher der bildenden Kunst anhängt. Der Dichter pvi_1183.024
dagegen gibt die Reihe wirklich, er überläßt sie nicht der ungewissen Fähigkeit pvi_1183.025
der allgemeinen Phantasie, er führt sie künstlerisch gebildet an unserem pvi_1183.026
innern Anschauen vorüber, beginnt und schließt sie, wo der innere Einheits= pvi_1183.027
und Lebenspunct seines Kunstwerks es verlangt; wir sehen den Apollo von pvi_1183.028
Belvedere nicht nur, wie er abgeschossen hat und dem Schusse triumphirend pvi_1183.029
nachblickt, den Laokoon nicht nur, wie er von den Schlangen umschnürt in pvi_1183.030
Todesschmerz aufstöhnt, sondern jenen, wie er den Feind ersieht, wie er pvi_1183.031
schießt und nachher in seiner Götterruhe zurückkehrt, diesen, wie er die dämonischen pvi_1183.032
Thiere mit Grauen erblickt, sich mit seinen Söhnen auf den pvi_1183.033
Altar flüchtet, erfaßt wird und wie er nach den letzten tödtlichen Bissen pvi_1183.034
mit ihnen, eine tragische Leichengruppe, hingestreckt liegt. Nun erst nehme pvi_1183.035
man wieder den rein quantitativen Gewinn hinzu, welcher schon in §. 838 pvi_1183.036
hervorgehoben ist: ebenso bewegt, wie die Figur oder Gruppe, die je zunächst pvi_1183.037
den Mittelpunct seiner Darstellung bildet, gibt uns der Dichter Alles mit, pvi_1183.038
was rings diese Gruppe umgibt, soweit es ihm ästhetisch beliebt, seinen pvi_1183.039
Kreis zu ziehen, und dieß gefüllte Ganze führt er dann zu den weiteren Momenten pvi_1183.040
fort; eine ganze breite Masse der verschiedensten Gegenstände in den pvi_1183.041
verschiedensten Zuständen und Stimmungen kann er vor uns hinführen,
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