Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1178.001 3. Vom Rhythmischen, – worunter alle Formen der gebundenen Rede pvi_1178.026 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0040" n="1178"/><lb n="pvi_1178.001"/> in das Nichts. Man kann sagen, daß in der zum vorh. §. angeführten <lb n="pvi_1178.002"/> Schiller'schen Definition des Dichters nach ihrem ersten Theile: <lb n="pvi_1178.003"/> „Empfindungszustand“ die Poesie nicht genug von der Musik unterschieden <lb n="pvi_1178.004"/> sei; man könnte ebendasselbe dem Worte Göthe's vorwerfen: „lebendiges <lb n="pvi_1178.005"/> Gefühl der Zustände und die Fähigkeit, es auszudrücken, macht den Dichter“; <lb n="pvi_1178.006"/> man könnte darauf erwiedern, daß hier unter „Zustände“ wohl das Ganze <lb n="pvi_1178.007"/> der Situationen, das Gefühl <hi rendition="#g">sammt</hi> den Dingen und Gedanken verstanden <lb n="pvi_1178.008"/> sei; allein daran liegt hier wenig, sondern mit gutem Grund haben die <lb n="pvi_1178.009"/> beiden großen Dichter unserer Nation einmal recht und ganz betonen wollen, <lb n="pvi_1178.010"/> daß alles Aufzeigen der Dinge in der Poesie null sei, wenn es nicht jedem <lb n="pvi_1178.011"/> Gemüthe die Jnnigkeit ursprünglicher Empfindung mittheile zum Zeugniß, <lb n="pvi_1178.012"/> daß es daraus hervorgegangen. Daher ist in seiner Einfachheit doch so <lb n="pvi_1178.013"/> bedeutend, was Göthe von Shakespeare gesagt hat: bei ihm erfahre man, <lb n="pvi_1178.014"/> wie den Menschen zu Muthe sei. – Wir können nun das Wesen der <lb n="pvi_1178.015"/> Dichtkunst, wie sich in ihr die bildende Kunst und Musik wiederholt und <lb n="pvi_1178.016"/> vereinigt, dahin bestimmen: die Dichtkunst ist empfundene und empfindende <lb n="pvi_1178.017"/> Gestalt. Der Mangel dieser Bestimmung wird sich zeigen und heben. – <lb n="pvi_1178.018"/> Nahe liegt es übrigens, schon hier den Schluß zu ziehen, daß die jetzt <lb n="pvi_1178.019"/> hervorgestellte Seite der Dichtkunst ihr besonderes Recht in einem eigenen <lb n="pvi_1178.020"/> Zweige zur Geltung bringen werde. Zum vorh. §. wurde dieser Zweig <lb n="pvi_1178.021"/> vorläufig erwähnt, um einem Einwande gegen die Forderung objectiver <lb n="pvi_1178.022"/> Bildlichkeit zu begegnen; der gegenwärtige Zusammenhang weist positiv auf <lb n="pvi_1178.023"/> ihn hin, doch ist dieß erst aufzunehmen, wenn wir zur Eintheilung der <lb n="pvi_1178.024"/> Poesie in ihre Gebiete übergehen.</hi> </p> <lb n="pvi_1178.025"/> <p> <hi rendition="#et"> 3. Vom Rhythmischen, – worunter alle Formen der gebundenen Rede <lb n="pvi_1178.026"/> begriffen werden, – nehmen wir hier vorerst nur die allgemeinste Bedeutung, <lb n="pvi_1178.027"/> die innere Begründung im Zusammenhange zwischen Poesie und Musik auf. <lb n="pvi_1178.028"/> Wenn alles Dichten vom Gefühl ausgeht und, wie es immer zum Objectiven <lb n="pvi_1178.029"/> fortgehen mag, im Gefühle bleibt, so folgt von selbst, daß die poetische <lb n="pvi_1178.030"/> Stimmung zugleich eine Nervenstimmung ist, welche den Keim und Grund <lb n="pvi_1178.031"/> zu gewissen formalen Ordnungen, die sich im Darstellungsmittel niederlegen, <lb n="pvi_1178.032"/> auf ähnliche Weise mit sich führen wird, wie die musikalische. Es leuchtet <lb n="pvi_1178.033"/> freilich auch sogleich ein, daß eine andere Formenwelt in dem articulirten <lb n="pvi_1178.034"/> Tone sich entwickeln muß, der nur Vehikel ist, als in dem nicht articulirten <lb n="pvi_1178.035"/> Tone, der das Material einer Kunst bildet, aber dieß hebt die ursprüngliche <lb n="pvi_1178.036"/> Verwandtschaft nicht auf. Es ist bekannt und oft angeführt, daß gehobene <lb n="pvi_1178.037"/> Stimmung selbst Naturen, die sonst kein Talent zur Dichtkunst haben, zu <lb n="pvi_1178.038"/> rhythmischer Sprache fortreißt; wir dürfen hier statt alles Weiteren auf den <lb n="pvi_1178.039"/> ersten Theil der Lehre von der Musik, auf die Blicke verweisen, die wir <lb n="pvi_1178.040"/> in jenen geheimnißvollen Zusammenhang zwischen Seelenstimmung und <lb n="pvi_1178.041"/> Schwingungsleben der Nerven geworfen haben. Derselbe wird sich im </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1178/0040]
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in das Nichts. Man kann sagen, daß in der zum vorh. §. angeführten pvi_1178.002
Schiller'schen Definition des Dichters nach ihrem ersten Theile: pvi_1178.003
„Empfindungszustand“ die Poesie nicht genug von der Musik unterschieden pvi_1178.004
sei; man könnte ebendasselbe dem Worte Göthe's vorwerfen: „lebendiges pvi_1178.005
Gefühl der Zustände und die Fähigkeit, es auszudrücken, macht den Dichter“; pvi_1178.006
man könnte darauf erwiedern, daß hier unter „Zustände“ wohl das Ganze pvi_1178.007
der Situationen, das Gefühl sammt den Dingen und Gedanken verstanden pvi_1178.008
sei; allein daran liegt hier wenig, sondern mit gutem Grund haben die pvi_1178.009
beiden großen Dichter unserer Nation einmal recht und ganz betonen wollen, pvi_1178.010
daß alles Aufzeigen der Dinge in der Poesie null sei, wenn es nicht jedem pvi_1178.011
Gemüthe die Jnnigkeit ursprünglicher Empfindung mittheile zum Zeugniß, pvi_1178.012
daß es daraus hervorgegangen. Daher ist in seiner Einfachheit doch so pvi_1178.013
bedeutend, was Göthe von Shakespeare gesagt hat: bei ihm erfahre man, pvi_1178.014
wie den Menschen zu Muthe sei. – Wir können nun das Wesen der pvi_1178.015
Dichtkunst, wie sich in ihr die bildende Kunst und Musik wiederholt und pvi_1178.016
vereinigt, dahin bestimmen: die Dichtkunst ist empfundene und empfindende pvi_1178.017
Gestalt. Der Mangel dieser Bestimmung wird sich zeigen und heben. – pvi_1178.018
Nahe liegt es übrigens, schon hier den Schluß zu ziehen, daß die jetzt pvi_1178.019
hervorgestellte Seite der Dichtkunst ihr besonderes Recht in einem eigenen pvi_1178.020
Zweige zur Geltung bringen werde. Zum vorh. §. wurde dieser Zweig pvi_1178.021
vorläufig erwähnt, um einem Einwande gegen die Forderung objectiver pvi_1178.022
Bildlichkeit zu begegnen; der gegenwärtige Zusammenhang weist positiv auf pvi_1178.023
ihn hin, doch ist dieß erst aufzunehmen, wenn wir zur Eintheilung der pvi_1178.024
Poesie in ihre Gebiete übergehen.
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3. Vom Rhythmischen, – worunter alle Formen der gebundenen Rede pvi_1178.026
begriffen werden, – nehmen wir hier vorerst nur die allgemeinste Bedeutung, pvi_1178.027
die innere Begründung im Zusammenhange zwischen Poesie und Musik auf. pvi_1178.028
Wenn alles Dichten vom Gefühl ausgeht und, wie es immer zum Objectiven pvi_1178.029
fortgehen mag, im Gefühle bleibt, so folgt von selbst, daß die poetische pvi_1178.030
Stimmung zugleich eine Nervenstimmung ist, welche den Keim und Grund pvi_1178.031
zu gewissen formalen Ordnungen, die sich im Darstellungsmittel niederlegen, pvi_1178.032
auf ähnliche Weise mit sich führen wird, wie die musikalische. Es leuchtet pvi_1178.033
freilich auch sogleich ein, daß eine andere Formenwelt in dem articulirten pvi_1178.034
Tone sich entwickeln muß, der nur Vehikel ist, als in dem nicht articulirten pvi_1178.035
Tone, der das Material einer Kunst bildet, aber dieß hebt die ursprüngliche pvi_1178.036
Verwandtschaft nicht auf. Es ist bekannt und oft angeführt, daß gehobene pvi_1178.037
Stimmung selbst Naturen, die sonst kein Talent zur Dichtkunst haben, zu pvi_1178.038
rhythmischer Sprache fortreißt; wir dürfen hier statt alles Weiteren auf den pvi_1178.039
ersten Theil der Lehre von der Musik, auf die Blicke verweisen, die wir pvi_1178.040
in jenen geheimnißvollen Zusammenhang zwischen Seelenstimmung und pvi_1178.041
Schwingungsleben der Nerven geworfen haben. Derselbe wird sich im
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