Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
pvi_1473.001 Wir sind aber hier wirklich zu der letzten Grenzmarke gelangt, mit pvi_1473.016
pvi_1473.001 Wir sind aber hier wirklich zu der letzten Grenzmarke gelangt, mit pvi_1473.016 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0335" n="1473"/><lb n="pvi_1473.001"/> ist, der in seinen Weihestunden das Feuer seiner Begeisterung in <lb n="pvi_1473.002"/> den wahrhaft ästhetischen Prozeß der Phantasie zu erheben vermag. Das <lb n="pvi_1473.003"/> Tendenziöse ist besonders in der dramatischen Poesie zu Hause, weil diese <lb n="pvi_1473.004"/> sich am entschiedensten gegen das wirkliche, sittlich politische Leben öffnet, <lb n="pvi_1473.005"/> und die Form, worin es sich äußert, wird am richtigsten hier <hi rendition="#g">rhetorisch</hi> <lb n="pvi_1473.006"/> genannt. Dieser Zug hat sich bei uns vorzüglich in Nachahmung Schiller's <lb n="pvi_1473.007"/> festgesetzt, von welchem nach dieser Seite in §. 896, Anm. die Rede war. – <lb n="pvi_1473.008"/> Jm Uebrigen ist es auch hier in der Ordnung, daß man sich nicht immer <lb n="pvi_1473.009"/> auf die Höhe des strengsten ästhetischen Maaßstabs stellt, sondern zu rechter <lb n="pvi_1473.010"/> Zeit auf den praktisch ethischen herüberneigt und zufrieden ist, wenn ein <lb n="pvi_1473.011"/> Tendenz-Roman, lyrisches Tendenzgedicht, namentlich aber Tendenzdrama <lb n="pvi_1473.012"/> einmal die trägen Gemüther mit starken Hebeln faßt, erschüttert, für große <lb n="pvi_1473.013"/> Jdeen der Humanität, der Nationalität, der Freiheit und Gerechtigkeit <lb n="pvi_1473.014"/> begeistert. –</hi> </p> <lb n="pvi_1473.015"/> <p> <hi rendition="#et"> Wir sind aber hier wirklich zu der letzten Grenzmarke gelangt, mit <lb n="pvi_1473.016"/> welcher sich die Aesthetik zu beschäftigen hat, zu der <hi rendition="#g">Rhetorik.</hi> Jhr Grund <lb n="pvi_1473.017"/> und Boden ist der praktisch ethische: der Redner hat direct den Willen einer <lb n="pvi_1473.018"/> Versammlung zu einem Entschlusse zu bestimmen; nur die religiöse Rede <lb n="pvi_1473.019"/> und noch mehr die sogenannte Schaurede unterscheidet sich dadurch, daß sie <lb n="pvi_1473.020"/> nicht einen einzelnen Entschluß, sondern eine bleibende Stimmung hervorzurufen <lb n="pvi_1473.021"/> sucht, aber auch diese soll in den Willen übergehen und so ist eben <lb n="pvi_1473.022"/> Willensbestimmung der spezifische, allgemeine Zweck des Redners. Für diesen <lb n="pvi_1473.023"/> Zweck werden nun neben dem theoretischen Mittel der Ueberzeugung nothwendig <lb n="pvi_1473.024"/> solche in Bewegung gesetzt, welche der Poesie angehören, denn die <lb n="pvi_1473.025"/> Ueberzeugung soll durch Entzündung des Gefühls, Affects und der Phantasie <lb n="pvi_1473.026"/> zum Willens-Acte, zum Beschlusse werden. Das Epische tritt in der <lb n="pvi_1473.027"/> Schilderung, das Lyrische in der directen Gefühls-Erregung, sofern sie noch <lb n="pvi_1473.028"/> vom Affecte, d. h. der Spannung gegen den Willen hin zu unterscheiden <lb n="pvi_1473.029"/> ist, das Dramatische in den starken schlagartigen Wirkungen auf diese Kräfte <lb n="pvi_1473.030"/> hervor. Wirklich liegt nun aber in dieser Verbindung poetischer Elemente <lb n="pvi_1473.031"/> mit der Prosa entschieden nicht mehr eine Auflösungsform der Poesie vor, <lb n="pvi_1473.032"/> sondern ein Herübergreifen eines andern Gebiets in diese, mag auch in der <lb n="pvi_1473.033"/> Persönlichkeit des gebornen Redners gemäß den unendlichen Mischungen, <lb n="pvi_1473.034"/> welche die Natur hervorbringt, die Verbindung der Elemente eine ganz <lb n="pvi_1473.035"/> flüssige, lebendige sein. Wir haben also den Boden der Aesthetik unzweifelhaft <lb n="pvi_1473.036"/> verlassen und blicken bereits von einem andern nach ihr herüber. Zwar <lb n="pvi_1473.037"/> ist auch die Anordnung der Rede keine Aufgabe des prosaischen Denkens, <lb n="pvi_1473.038"/> nicht rein logisch, sondern die bestimmte Energie seines Zwecks gebietet dem <lb n="pvi_1473.039"/> Redner, die Ueberzeugungsgründe, die positiven und die negativen (widerlegenden), <lb n="pvi_1473.040"/> mit den poetischen Mitteln im Ganzen und im Einzelnen so zu <lb n="pvi_1473.041"/> disponiren, daß diese sämmtlichen Kräfte steigend zu einem Strom anwachsen, </hi> </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1473/0335]
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ist, der in seinen Weihestunden das Feuer seiner Begeisterung in pvi_1473.002
den wahrhaft ästhetischen Prozeß der Phantasie zu erheben vermag. Das pvi_1473.003
Tendenziöse ist besonders in der dramatischen Poesie zu Hause, weil diese pvi_1473.004
sich am entschiedensten gegen das wirkliche, sittlich politische Leben öffnet, pvi_1473.005
und die Form, worin es sich äußert, wird am richtigsten hier rhetorisch pvi_1473.006
genannt. Dieser Zug hat sich bei uns vorzüglich in Nachahmung Schiller's pvi_1473.007
festgesetzt, von welchem nach dieser Seite in §. 896, Anm. die Rede war. – pvi_1473.008
Jm Uebrigen ist es auch hier in der Ordnung, daß man sich nicht immer pvi_1473.009
auf die Höhe des strengsten ästhetischen Maaßstabs stellt, sondern zu rechter pvi_1473.010
Zeit auf den praktisch ethischen herüberneigt und zufrieden ist, wenn ein pvi_1473.011
Tendenz-Roman, lyrisches Tendenzgedicht, namentlich aber Tendenzdrama pvi_1473.012
einmal die trägen Gemüther mit starken Hebeln faßt, erschüttert, für große pvi_1473.013
Jdeen der Humanität, der Nationalität, der Freiheit und Gerechtigkeit pvi_1473.014
begeistert. –
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Wir sind aber hier wirklich zu der letzten Grenzmarke gelangt, mit pvi_1473.016
welcher sich die Aesthetik zu beschäftigen hat, zu der Rhetorik. Jhr Grund pvi_1473.017
und Boden ist der praktisch ethische: der Redner hat direct den Willen einer pvi_1473.018
Versammlung zu einem Entschlusse zu bestimmen; nur die religiöse Rede pvi_1473.019
und noch mehr die sogenannte Schaurede unterscheidet sich dadurch, daß sie pvi_1473.020
nicht einen einzelnen Entschluß, sondern eine bleibende Stimmung hervorzurufen pvi_1473.021
sucht, aber auch diese soll in den Willen übergehen und so ist eben pvi_1473.022
Willensbestimmung der spezifische, allgemeine Zweck des Redners. Für diesen pvi_1473.023
Zweck werden nun neben dem theoretischen Mittel der Ueberzeugung nothwendig pvi_1473.024
solche in Bewegung gesetzt, welche der Poesie angehören, denn die pvi_1473.025
Ueberzeugung soll durch Entzündung des Gefühls, Affects und der Phantasie pvi_1473.026
zum Willens-Acte, zum Beschlusse werden. Das Epische tritt in der pvi_1473.027
Schilderung, das Lyrische in der directen Gefühls-Erregung, sofern sie noch pvi_1473.028
vom Affecte, d. h. der Spannung gegen den Willen hin zu unterscheiden pvi_1473.029
ist, das Dramatische in den starken schlagartigen Wirkungen auf diese Kräfte pvi_1473.030
hervor. Wirklich liegt nun aber in dieser Verbindung poetischer Elemente pvi_1473.031
mit der Prosa entschieden nicht mehr eine Auflösungsform der Poesie vor, pvi_1473.032
sondern ein Herübergreifen eines andern Gebiets in diese, mag auch in der pvi_1473.033
Persönlichkeit des gebornen Redners gemäß den unendlichen Mischungen, pvi_1473.034
welche die Natur hervorbringt, die Verbindung der Elemente eine ganz pvi_1473.035
flüssige, lebendige sein. Wir haben also den Boden der Aesthetik unzweifelhaft pvi_1473.036
verlassen und blicken bereits von einem andern nach ihr herüber. Zwar pvi_1473.037
ist auch die Anordnung der Rede keine Aufgabe des prosaischen Denkens, pvi_1473.038
nicht rein logisch, sondern die bestimmte Energie seines Zwecks gebietet dem pvi_1473.039
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mit den poetischen Mitteln im Ganzen und im Einzelnen so zu pvi_1473.041
disponiren, daß diese sämmtlichen Kräfte steigend zu einem Strom anwachsen,
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