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Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.

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Handlung, Leiden, kurz reiner Mythus, nicht blos eingewoben in menschliche pvi_1463.002
Handlung und Leiden, sondern als eigentlicher und wesentlicher Stoff, ist pvi_1463.003
niemals ungemischte Poesie, sondern Lehrpoesie. Es verhält sich anders in pvi_1463.004
der bildenden Kunst, hier ist das Vorführen der göttlichen Personen ein pvi_1463.005
lebendiges Motiv, um rein und allgemein Menschliches darzustellen, weil pvi_1463.006
es mit der sinnlichen Erscheinung Ernst wird; in der Poesie dagegen, wo pvi_1463.007
das Anthropomorphische nur durchsichtige Vorstellung bleibt und doch die pvi_1463.008
Gestalt in durchgeführte Handlung gesetzt wird, fällt hier die überzeugende pvi_1463.009
Kraft der Lebenswahrheit weg; diese kann einem Ganzen von pvi_1463.010
fast lauter transcendenten Gestalten und Begebenheiten nicht zukommen, pvi_1463.011
menschliche Sympathie ist nicht möglich, wo es keine Schuld, kein eigentliches pvi_1463.012
Glück und Unglück gibt, und wo diese nicht möglich ist, bleibt nur pvi_1463.013
das Verhältniß des Bewußtseins zu reinen Jdeen, die ihm unter poetischer pvi_1463.014
Hülle eingeprägt werden. Freilich aber ist bei diesen primitiven Erscheinungen pvi_1463.015
des religiösen Epos der Unterschied von eigentlicher Lehrdichtung nicht minder pvi_1463.016
einleuchtend: ehrwürdiger, fester Glaube hält die großen Wahrheiten noch pvi_1463.017
unbefangen in sinnlicher Form fest und ist wirklich überzeugt, Thatsachen, pvi_1463.018
Geschichte und Handlung vorzutragen, zu vernehmen. Es ist dieß der pvi_1463.019
Antheil der Phantasie an der Religion, durch welchen diese die zweite Stoffwelt pvi_1463.020
schafft (§. 416 ff.), und darin eben ruht die innigere Verwandtschaft pvi_1463.021
dieser altehrwürdigen Lehrpoesie mit der ächten Dichtkunst; der Unterschied pvi_1463.022
aber liegt, wie gesagt, darin, daß diese niemals die zweite Stoffwelt ohne pvi_1463.023
die ursprüngliche gibt und immer irgend einen Grad von ästhetischer Lockerung pvi_1463.024
des unfreien Scheins voraussetzt (vergl. §. 417. 418).

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Die eigentliche Lehrpoesie dagegen hat entweder bei übrigens phantasieloser pvi_1463.026
Bildung den unfreien Schein in religiösen Dingen behalten, aber pvi_1463.027
auf Verstandsgründe gestützt und das ist ebenso gut, wie wenn sie ohne pvi_1463.028
diesen prosaisch geretteten Phantasie-Antheil bildlose Wahrheit vortrüge, pvi_1463.029
oder sie hat ihn aufgehoben und dann tritt eben der letztere Fall ein, die pvi_1463.030
Zuthat der Phantasie aber legt sich nachträglich an den so getrennten und pvi_1463.031
für sich bewußten Gehalt. Eine genauere Erörterung der Hesiodischen pvi_1463.032
Theogonie und des Verwandten in der griechischen Literatur gehört nicht pvi_1463.033
hieher; dieselbe hätte übrigens Alles, was die orientalischen Religions-Urkunden pvi_1463.034
von ausdrücklich und zusammenhängend vorgetragener Götterlehre, pvi_1463.035
Göttergeschichte enthalten, ebenfalls zu berücksichtigen. Aus der nordischen pvi_1463.036
Welt reihen sich daran die Edda-Lieder mythischen Jnhalts und aus der pvi_1463.037
althochdeutschen die Evangelien-Harmonien Otfried's und die altsächsische, pvi_1463.038
der Heliand. Dante, Milton, Klopstock dagegen gehören der Kunstpoesie an pvi_1463.039
und sind in der Darstellung der Formen des Epos beleuchtet worden, es pvi_1463.040
weisen aber die Bemerkungen in jenem Zusammenhang herüber in den Begriff pvi_1463.041
des Gebietes, in welchem wir uns nun befinden. So hat denn auch

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Handlung, Leiden, kurz reiner Mythus, nicht blos eingewoben in menschliche pvi_1463.002
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Glück und Unglück gibt, und wo diese nicht möglich ist, bleibt nur pvi_1463.013
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des unfreien Scheins voraussetzt (vergl. §. 417. 418).

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Die eigentliche Lehrpoesie dagegen hat entweder bei übrigens phantasieloser pvi_1463.026
Bildung den unfreien Schein in religiösen Dingen behalten, aber pvi_1463.027
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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857, S. 1463. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_poetik_1857/325>, abgerufen am 22.11.2024.