Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.pvi_1361.001 3. Die Ballade und Romanze sind Abkömmlinge der alten Heldenlieder, pvi_1361.002 pvi_1361.001 3. Die Ballade und Romanze sind Abkömmlinge der alten Heldenlieder, pvi_1361.002 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0223" n="1361"/> <lb n="pvi_1361.001"/> <p> <hi rendition="#et"> 3. Die <hi rendition="#g">Ballade</hi> und <hi rendition="#g">Romanze</hi> sind Abkömmlinge der alten Heldenlieder, <lb n="pvi_1361.002"/> die zuerst einzeln gesungen, dann zum Epos fortgebildet und zusammengefügt <lb n="pvi_1361.003"/> wurden; sie leiten also zu jener mehrfach erwähnten elementarischen <lb n="pvi_1361.004"/> Form zurück, wo das Lyrische und Epische noch im Keime vereinigt <lb n="pvi_1361.005"/> lagen. Allein nachdem das Letztere sich zu einer eigenen Gattung ausgesondert <lb n="pvi_1361.006"/> hat, ist der Theil des gemeinschaftlichen Keimes, der diesem Zuge <lb n="pvi_1361.007"/> nicht folgte, ein anderer geworden: er hat, obwohl dem Stoffe nach episch, <lb n="pvi_1361.008"/> lyrischen Charakter angenommen. Episch ist vor Allem das Moment der <lb n="pvi_1361.009"/> <hi rendition="#g">Vergangenheit,</hi> wodurch diese Form von der vorhergehenden Gruppe <lb n="pvi_1361.010"/> sich unterscheidet; aber es bewirkt jetzt nicht mehr die frei über dem Gegenstand <lb n="pvi_1361.011"/> schwebende, ausführlich zeichnende Haltung des Dichters, sondern <lb n="pvi_1361.012"/> dieser legt sich mit seiner Empfindung ganz in den Gegenstand, als ob derselbe, <lb n="pvi_1361.013"/> zwar als ein vergangener erzählt, zeitlich wie räumlich gegenwärtig <lb n="pvi_1361.014"/> wäre; die Zeichnung wird dem Tone untergeordnet, der ganze Hauch und <lb n="pvi_1361.015"/> Wurf wird subjectiv, bewegt, der Gang übersteigt rasch die retardirenden <lb n="pvi_1361.016"/> Elemente und eilt zum Schlusse, der Rhythmus baut sich musikalisch in <lb n="pvi_1361.017"/> lyrischen Strophen, das epische Lied entsteht mit der Melodie oder nach <lb n="pvi_1361.018"/> einer vorhandenen Melodie, lebt im Volksgesange oder muß doch, wenn es <lb n="pvi_1361.019"/> ächter Kunstpoesie angehört, den Charakter des Sangbaren tragen. Dem <lb n="pvi_1361.020"/> alten Heldenliede sieht man ferner die Neigung an, sich als Glied in ein <lb n="pvi_1361.021"/> größeres Ganzes zu fügen, es setzt die Kenntniß einer umfassenden Sage <lb n="pvi_1361.022"/> voraus; Ballade und Romanze dagegen stellt einen Stoff für sich, ähnlich <lb n="pvi_1361.023"/> wie die Novelle im Unterschied von dem Roman eine Situation, abgeschlossen <lb n="pvi_1361.024"/> hin, behandelt daher auch nicht leicht mehr Theile der Heldensage, sondern <lb n="pvi_1361.025"/> vereinzelte Ereignisse und Handlungen, Mordgeschichten, Schicksale der Liebe, <lb n="pvi_1361.026"/> Kriegsauftritte u. s. w., die aber allerdings den ächten Jnhalt vorzüglich <lb n="pvi_1361.027"/> dann liefern, wenn sie vorher von der Sage poetisch zubereitet sind, wohl <lb n="pvi_1361.028"/> auch Elemente des Mährchenhaften, Geisterhaften aufgenommen haben, <lb n="pvi_1361.029"/> worin tiefer und rein menschlicher Sinn eingehüllt ist. Die nähere Geschichte <lb n="pvi_1361.030"/> ist noch zu stoffartig und prosaisch versetzt und führt mehr zur <lb n="pvi_1361.031"/> poetischen Erzählung. Alle diese Merkmale weisen der epischen Lyrik im <lb n="pvi_1361.032"/> Unterschiede vom Epos den ahnungsvoll charakteristischen, nicht entwickelnden <lb n="pvi_1361.033"/> Styl zu; dennoch ist es natürlich, daß auch innerhalb dieses Bodens <lb n="pvi_1361.034"/> der Gegensatz eines relativ helleren, subjectiv klaren, mehr gegenständlich <lb n="pvi_1361.035"/> ausführenden und in diesem Sinne plastisch idealen Styls gegen einen im <lb n="pvi_1361.036"/> engeren Sinne malerisch helldunkeln sich von Neuem erzeugt. Die classische <lb n="pvi_1361.037"/> Dichtung bietet nichts für diese Stelle, im Alterthum blieb nach der Ausscheidung <lb n="pvi_1361.038"/> des Epos keine epische Form von lyrischem Charakter zurück. <lb n="pvi_1361.039"/> Dagegen tritt der Unterschied der Stylprinzipien in der neueren Poesie zunächst <lb n="pvi_1361.040"/> als ein nationaler auf und lehnt sich so an die Namen Romanze <lb n="pvi_1361.041"/> und Ballade. Ballade ist zwar ein italienisches Wort und bezeichnet ein </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1361/0223]
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3. Die Ballade und Romanze sind Abkömmlinge der alten Heldenlieder, pvi_1361.002
die zuerst einzeln gesungen, dann zum Epos fortgebildet und zusammengefügt pvi_1361.003
wurden; sie leiten also zu jener mehrfach erwähnten elementarischen pvi_1361.004
Form zurück, wo das Lyrische und Epische noch im Keime vereinigt pvi_1361.005
lagen. Allein nachdem das Letztere sich zu einer eigenen Gattung ausgesondert pvi_1361.006
hat, ist der Theil des gemeinschaftlichen Keimes, der diesem Zuge pvi_1361.007
nicht folgte, ein anderer geworden: er hat, obwohl dem Stoffe nach episch, pvi_1361.008
lyrischen Charakter angenommen. Episch ist vor Allem das Moment der pvi_1361.009
Vergangenheit, wodurch diese Form von der vorhergehenden Gruppe pvi_1361.010
sich unterscheidet; aber es bewirkt jetzt nicht mehr die frei über dem Gegenstand pvi_1361.011
schwebende, ausführlich zeichnende Haltung des Dichters, sondern pvi_1361.012
dieser legt sich mit seiner Empfindung ganz in den Gegenstand, als ob derselbe, pvi_1361.013
zwar als ein vergangener erzählt, zeitlich wie räumlich gegenwärtig pvi_1361.014
wäre; die Zeichnung wird dem Tone untergeordnet, der ganze Hauch und pvi_1361.015
Wurf wird subjectiv, bewegt, der Gang übersteigt rasch die retardirenden pvi_1361.016
Elemente und eilt zum Schlusse, der Rhythmus baut sich musikalisch in pvi_1361.017
lyrischen Strophen, das epische Lied entsteht mit der Melodie oder nach pvi_1361.018
einer vorhandenen Melodie, lebt im Volksgesange oder muß doch, wenn es pvi_1361.019
ächter Kunstpoesie angehört, den Charakter des Sangbaren tragen. Dem pvi_1361.020
alten Heldenliede sieht man ferner die Neigung an, sich als Glied in ein pvi_1361.021
größeres Ganzes zu fügen, es setzt die Kenntniß einer umfassenden Sage pvi_1361.022
voraus; Ballade und Romanze dagegen stellt einen Stoff für sich, ähnlich pvi_1361.023
wie die Novelle im Unterschied von dem Roman eine Situation, abgeschlossen pvi_1361.024
hin, behandelt daher auch nicht leicht mehr Theile der Heldensage, sondern pvi_1361.025
vereinzelte Ereignisse und Handlungen, Mordgeschichten, Schicksale der Liebe, pvi_1361.026
Kriegsauftritte u. s. w., die aber allerdings den ächten Jnhalt vorzüglich pvi_1361.027
dann liefern, wenn sie vorher von der Sage poetisch zubereitet sind, wohl pvi_1361.028
auch Elemente des Mährchenhaften, Geisterhaften aufgenommen haben, pvi_1361.029
worin tiefer und rein menschlicher Sinn eingehüllt ist. Die nähere Geschichte pvi_1361.030
ist noch zu stoffartig und prosaisch versetzt und führt mehr zur pvi_1361.031
poetischen Erzählung. Alle diese Merkmale weisen der epischen Lyrik im pvi_1361.032
Unterschiede vom Epos den ahnungsvoll charakteristischen, nicht entwickelnden pvi_1361.033
Styl zu; dennoch ist es natürlich, daß auch innerhalb dieses Bodens pvi_1361.034
der Gegensatz eines relativ helleren, subjectiv klaren, mehr gegenständlich pvi_1361.035
ausführenden und in diesem Sinne plastisch idealen Styls gegen einen im pvi_1361.036
engeren Sinne malerisch helldunkeln sich von Neuem erzeugt. Die classische pvi_1361.037
Dichtung bietet nichts für diese Stelle, im Alterthum blieb nach der Ausscheidung pvi_1361.038
des Epos keine epische Form von lyrischem Charakter zurück. pvi_1361.039
Dagegen tritt der Unterschied der Stylprinzipien in der neueren Poesie zunächst pvi_1361.040
als ein nationaler auf und lehnt sich so an die Namen Romanze pvi_1361.041
und Ballade. Ballade ist zwar ein italienisches Wort und bezeichnet ein
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