Vischer, Friedrich Theodor: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen zum Gebrauche für Vorlesungen. Dritter Teil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtung (Schluss des ganzen Werkes). Stuttgart, 1857.
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pvi_1316.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0178" n="1316"/><lb n="pvi_1316.001"/> Jdealität des classischen Styls gehalten, das Komische in enge Grenzen <lb n="pvi_1316.002"/> zu weisen, nicht zwar in ebenso enge, wie die Sculptur, welcher kein <lb n="pvi_1316.003"/> Thersites erlaubt ist, aber begreiflich in viel engere, als die Gattung, die <lb n="pvi_1316.004"/> vorneherein auf einer erfahrungsgemäßen, realistischen Weltanschauung ruht <lb n="pvi_1316.005"/> und sich im malerischen, individualisirenden Style bewegt. Es gibt kein <lb n="pvi_1316.006"/> komisches Epos. Was man so nannte, von der Betrachomyomachie bis <lb n="pvi_1316.007"/> zu Boileau's <hi rendition="#aq">lutrin</hi>, Pope's Lockenraub, Zachariä's Renommisten und <lb n="pvi_1316.008"/> Murner in der Hölle, ist nicht eine Spezies, sondern nur Parodie einer <lb n="pvi_1316.009"/> Spezies, worin diese dadurch lächerlich gemacht wird, daß ihre großen <lb n="pvi_1316.010"/> Motive und großer Styl auf die Folie kleiner Stoffe gelegt werden. Diese <lb n="pvi_1316.011"/> Formen gehören in den Anhang von der Satyre. Ebenda werden wir <lb n="pvi_1316.012"/> auch, obwohl wir den tiefen Unterschied nicht verkennen, das deutsche Thier= <lb n="pvi_1316.013"/> Epos aufführen. – Eine positive neue Spezies entsteht aus der Jronie <lb n="pvi_1316.014"/> eines Weltbilds, das sich ausgelebt hat und welchem unter dem Spotte <lb n="pvi_1316.015"/> zugleich ein neues Weltbild entgegengestellt wird. Das Ausgelebte wird <lb n="pvi_1316.016"/> als eine Jllusion dem Lächerlichen übergeben. Mit Jllusionen tritt aber <lb n="pvi_1316.017"/> der Romanheld immer seinen Erfahrungsweg durch das Leben an, daher <lb n="pvi_1316.018"/> hat es tiefen innern Zusammenhang, daß die wahre Entstehung des Romans <lb n="pvi_1316.019"/> und die Schöpfung des komischen Romans im Grunde zusammenfallen. <lb n="pvi_1316.020"/> Der tolle Humor des Rabelais und Fischart konnte erst eine formlos wilde <lb n="pvi_1316.021"/> Caricatur der romantischen Ritterwelt, keine neue Form hervorbringen; mit <lb n="pvi_1316.022"/> einem Werke der künstlerischen Jronie dieser Welt den komischen Roman, <lb n="pvi_1316.023"/> schließlich den wirklichen Roman überhaupt geschaffen zu haben, dieß ist <lb n="pvi_1316.024"/> die unsterbliche Leistung des Cervantes. Der edle Narr Don Quixote, <lb n="pvi_1316.025"/> dessen Hirn von der Lectüre der Ritterbücher verbrannt ist, zieht Abentheuer <lb n="pvi_1316.026"/> suchend durch die Welt, deren prosaische Wirklichkeit ihm auf allen <lb n="pvi_1316.027"/> Tritten den komischen Anprall bereitet und deren grobe Wahrheit von den <lb n="pvi_1316.028"/> Lippen seines komischen Schattens, seines bäurischen Chors, des Sancho <lb n="pvi_1316.029"/> Pansa gepredigt wird. So ist diese Jronie des Ritterthums zugleich Volksroman, <lb n="pvi_1316.030"/> nimmt im Volke den Ansatz zum Spotte gegen das ausgelebte <lb n="pvi_1316.031"/> Jdeal der Aristokratie. Um diesen Roman gruppiren sich jene Schelmen= <lb n="pvi_1316.032"/> und Abentheurer-Romane in Spanien, die in Frankreich ihre Nachahmung <lb n="pvi_1316.033"/> im Gil Blas von Lesage finden, und in Deutschland treten die Volksromane, <lb n="pvi_1316.034"/> die oben erwähnt sind, der absurden Fortsetzung des Ritterlichen im aristokratischen <lb n="pvi_1316.035"/> Kunstroman entgegen. Eine andere Linie tritt in England hervor. <lb n="pvi_1316.036"/> Hier bildet sich der bürgerlich komische Roman in Opposition gegen <lb n="pvi_1316.037"/> die Prüderie, die abstracten Tugend- und Bosheits-Muster, die pedantische <lb n="pvi_1316.038"/> Selbstzergliederung in Richardson's Romanen, wiewohl diese selbst die bürgerliche <lb n="pvi_1316.039"/> Form begründet und in der Feinheit, Schärfe und Sicherheit der <lb n="pvi_1316.040"/> Zeichnung so großes Verdienst haben. Naturalistisch derb und possenhaft <lb n="pvi_1316.041"/> tritt die Gegenwirkung in Fielding, wüst und aus tieferen Abgründen des </hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1316/0178]
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Jdealität des classischen Styls gehalten, das Komische in enge Grenzen pvi_1316.002
zu weisen, nicht zwar in ebenso enge, wie die Sculptur, welcher kein pvi_1316.003
Thersites erlaubt ist, aber begreiflich in viel engere, als die Gattung, die pvi_1316.004
vorneherein auf einer erfahrungsgemäßen, realistischen Weltanschauung ruht pvi_1316.005
und sich im malerischen, individualisirenden Style bewegt. Es gibt kein pvi_1316.006
komisches Epos. Was man so nannte, von der Betrachomyomachie bis pvi_1316.007
zu Boileau's lutrin, Pope's Lockenraub, Zachariä's Renommisten und pvi_1316.008
Murner in der Hölle, ist nicht eine Spezies, sondern nur Parodie einer pvi_1316.009
Spezies, worin diese dadurch lächerlich gemacht wird, daß ihre großen pvi_1316.010
Motive und großer Styl auf die Folie kleiner Stoffe gelegt werden. Diese pvi_1316.011
Formen gehören in den Anhang von der Satyre. Ebenda werden wir pvi_1316.012
auch, obwohl wir den tiefen Unterschied nicht verkennen, das deutsche Thier= pvi_1316.013
Epos aufführen. – Eine positive neue Spezies entsteht aus der Jronie pvi_1316.014
eines Weltbilds, das sich ausgelebt hat und welchem unter dem Spotte pvi_1316.015
zugleich ein neues Weltbild entgegengestellt wird. Das Ausgelebte wird pvi_1316.016
als eine Jllusion dem Lächerlichen übergeben. Mit Jllusionen tritt aber pvi_1316.017
der Romanheld immer seinen Erfahrungsweg durch das Leben an, daher pvi_1316.018
hat es tiefen innern Zusammenhang, daß die wahre Entstehung des Romans pvi_1316.019
und die Schöpfung des komischen Romans im Grunde zusammenfallen. pvi_1316.020
Der tolle Humor des Rabelais und Fischart konnte erst eine formlos wilde pvi_1316.021
Caricatur der romantischen Ritterwelt, keine neue Form hervorbringen; mit pvi_1316.022
einem Werke der künstlerischen Jronie dieser Welt den komischen Roman, pvi_1316.023
schließlich den wirklichen Roman überhaupt geschaffen zu haben, dieß ist pvi_1316.024
die unsterbliche Leistung des Cervantes. Der edle Narr Don Quixote, pvi_1316.025
dessen Hirn von der Lectüre der Ritterbücher verbrannt ist, zieht Abentheuer pvi_1316.026
suchend durch die Welt, deren prosaische Wirklichkeit ihm auf allen pvi_1316.027
Tritten den komischen Anprall bereitet und deren grobe Wahrheit von den pvi_1316.028
Lippen seines komischen Schattens, seines bäurischen Chors, des Sancho pvi_1316.029
Pansa gepredigt wird. So ist diese Jronie des Ritterthums zugleich Volksroman, pvi_1316.030
nimmt im Volke den Ansatz zum Spotte gegen das ausgelebte pvi_1316.031
Jdeal der Aristokratie. Um diesen Roman gruppiren sich jene Schelmen= pvi_1316.032
und Abentheurer-Romane in Spanien, die in Frankreich ihre Nachahmung pvi_1316.033
im Gil Blas von Lesage finden, und in Deutschland treten die Volksromane, pvi_1316.034
die oben erwähnt sind, der absurden Fortsetzung des Ritterlichen im aristokratischen pvi_1316.035
Kunstroman entgegen. Eine andere Linie tritt in England hervor. pvi_1316.036
Hier bildet sich der bürgerlich komische Roman in Opposition gegen pvi_1316.037
die Prüderie, die abstracten Tugend- und Bosheits-Muster, die pedantische pvi_1316.038
Selbstzergliederung in Richardson's Romanen, wiewohl diese selbst die bürgerliche pvi_1316.039
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Zeichnung so großes Verdienst haben. Naturalistisch derb und possenhaft pvi_1316.041
tritt die Gegenwirkung in Fielding, wüst und aus tieferen Abgründen des
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